6. Kapitel

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Grayson

Das konnte nicht wahr sein.

Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Ich starrte sprachlos auf die Tür zum Nebenraum, die mir Boxergirl soeben vor der Nase zugeknallt hatte, mit genug Schwung, um mir klarzumachen, dass ich ihr besser nicht folgte.

Was ich sowieso nicht machen würde. Dachte sie, ich wäre lebensmüde? Sie konnte gerne dadrin weiter auf Gegenstände eindreschen, soviel sie wollte. Solange sie nicht auf mich eindrosch, war es mir egal.

In diesem Moment wurde mir die Situation mit voller Wucht bewusst. Ich war für eine ganze Nacht eingesperrt in einem Keller voller Sportgeräte in irgendeinem zweitklassigen Sportverein mit einem aggressiven, unverschämten Boxermädchen, das mich hasste und mich heute Nacht wohl im Schlaf umbringen würde.

Was für eine verkorkste, dämliche Situation. Wieso hatte ich nur über diesen verfluchten Türstopper stolpern müssen? Ansonsten wäre das alles nicht passiert und ich läge zuhause in meinem warmen Bett und wäre nicht in diesem kahlen Geräteraum eingesperrt. Wo sollte ich denn hier überhaupt schlafen? Das einzige, was es in diesem Raum gab, waren Regale und Sportgeräte. Ich würde wohl auf dem kalten grauen Betonboden schlafen müssen.

Ich stöhnte frustriert und ließ mich auf den Boden fallen.

"Verdammt, verdammt, verdammt", murmelte ich vor mich hin. Dieses Mal war es mir egal, ob Boxergirl mich hörte. Sie hatte schon deutlich schlimmer geflucht als nur verdammt, da würde sie sich wohl kaum aufregen.

Und das war der Moment, wo es mir auffiel.

Es war still. Komplett still. Von der anderen Seite der Tür kam nicht der leiseste Mucks.

Ich setzte mich auf und lauschte, die Stirn gerunzelt.

Hatte sie einen anderen Weg aus dem Keller gefunden oder gab es noch mehr Kellerräume? Es konnte doch wohl nicht sein, dass Boxergirl es fertigbrachte, so leise zu sein. Dafür war es nämlich nötig, dass sie erst einmal die Klappe hielt, und das schien ihr doch ziemlich schwerzufallen.

Sie war noch da. Natürlich war sie noch da.

Oder?

Plötzlich wurde die Stille unangenehm.

Das einzige, was noch schlimmer war als mit einem unverschämten Mädchen in einem Keller eingesperrt zu werden, ist, alleine in einem Keller eingesperrt zu werden.

Zudem war es so still, dass ihr Wutausbruch und ihre Beleidigungen, ihre ablehnende Art und ihr Spott surreal wirkte, als hätte ich mir alles nur ausgedacht.

Als wäre ich in Wirklichkeit alleine in diesem Keller.

Ich hielt es nicht mehr aus.

"Hallo? Boxergirl?" Ich hielt den Atem an. "Bist du noch da?"

Ein Geräusch drang durch die Tür. Gott sei Dank. Es klang wie ein wütendes Schnäuzen.

"Wo sollte ich denn sonst sein, Idiot?", gab sie zurück, die Worte gedämpft durch die Tür zwischen uns. "Wir sind hier eingesperrt, falls dir das nicht aufgefallen ist."

Ich war selbst überrascht davon, wie erleichtert ich war, dass sie da war. Ich war nicht einmal sauer, dass sie mich schon wieder beleidigt hatte.

Nicht, dass ich ihr das sagen würde.

"Das war mir ziemlich klar, danke", erwiderte ich in meinem besten angriffslustigen Tonfall. "Ich wollte nur sichergehen, dass du noch lebst, weil du aufgehört hast zu schimpfen, fluchen und mich zu beleidigen. Das war besorgniserregend, aber zum Glück scheinst du dich jetzt davon erholt zu haben."

Sie schnaubte zornig. "Verpiss dich doch einfach." Ihre Stimme klang eigenartig. Moment-

"Weinst du etwa?"

Ich konnte selbst hören, wie ungläubig ich klang. Boxergirl und Weinen passte einfach nicht zusammen.

"Ich habe gesagt, verpiss dich!", wiederholte sie wütend, aber diesmal klang ihre Wut anders - als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Ich starrte schockiert auf die Tür.

Plötzlich taten mir meine Kommentare leid. Wegen ihrer gemeinen, abweisenden Art hatte ich ganz vergessen, dass sie auch nur ein Mensch war. Dass man sie verletzen konnte.

"Es tut mir leid", sagte ich leise. "Willst du darüber reden?"

Sie schwieg einen Moment und dann schnäuzte sie sich erneut, lang und wütend, und als sie danach wieder sprach, war ihre Stimme wieder zu ihrer üblichen Aggressivität und Energie zurückgekehrt.

"Welchen Teil von Verpiss dich hast du nicht verstanden, Junge?"

Mein Mitleid hörte sofort auf.

Wahrscheinlich hatte ich es mir nur eingebildet. Boxergirl hatte wahrscheinlich das letzte Mal geweint, als sie fünf war oder etwas in der Art. Sie war kein Mensch, der einfach weinte. Vor allem nicht wegen so etwas.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Tür und rollte die Augen. Was interessierte es mich denn überhaupt? Ab morgen würde ich sie wahrscheinlich sowieso nie wiedersehen.

"Falls es dir nicht aufgefallen ist", wiederholte ich ihre Worte von zuvor, "wir sind hier eingesperrt. Schon vergessen? Ich kann mich schlecht von hier verpissen."

Ich hatte für eine Sekunde ein schlechtes Gewissen wegen 'verpissen', aber andererseits zitierte ich ja lediglich ihre Wortwahl.

Sie schnaubte. Es klang fast wie ein Lachen.

"Soll ich es noch einmal in Schnöselsprache für dich übersetzen? Lass mich bitte in Ruhe und hör auf, mich zu nerven. Danke."

Es war das erste Mal, dass sie normal redete, und ihre Stimme klang sofort weniger gemein.

Außerdem hatte sie sich bedankt. Und bitte gesagt. Wunder über Wunder.

Ich lehnte meinen Hinterkopf an die Tür und blinzelte hoch zum Licht. Vielleicht war das ja so eine Art Waffenstillstand.

"Immer gern."

STUCKWhere stories live. Discover now