20. Kapitel

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Amber

Die Sache war endgültig. Scott würde nicht kommen. Wir würden das ganze Wochenende hier sein. Verrückt, vor ein paar Stunden war mir noch dieser Gedanke komplett absurd vorgekommen, aber mittlerweile hatte ich mich an die Tatsachen gewöhnt. Auch Grayson schien sich mit dem Gedanken angefreundet oder ihn zumindest akzeptiert zu haben, denn er sah mich mit einem selbstbewussten, fast sogar fürsorglichem Blick an, der keinen Anschein an Wut oder Frustration hatte. Seine Augen strahlten eine unerwartete Entschlossenheit aus, die mich so verunsicherte, dass ich wegschauen musste. Scheinbar dachte der Junge, mich hätte seine Antwort verunsichert und ich hätte deshalb weggeschaut, denn er sagte: "Das wird schon. Keine Sorge, ich werde dich nicht beißen...", und gab dabei ein gequältes Lachen von sich.

"Ich glaube, du verstehst es immer noch nicht", platzten die Worte aus mir heraus. Schnell ging ich auf Abstand. "Wir sitzen jetzt seit mindestens zehn Stunden hier gemeinsam fest und du hast mich immer noch nicht gut genug kennengelernt, dass du denkst, ich hätte Angst vor dir? Vor dir?" "Amber, bitte..." - "Grayson, es geht nicht immer um dich. Oder uns." Grayson unterbrach mich: "Um was geht es dann? Sag es mir, Amber. Ich versuche wirklich, dich zu verstehen, aber so geht es einfach nicht." "Aber- " "Nein, Amber, jetzt bin ich dran mit Reden. Ich weiß, es geht hier nicht um mich, aber genauso wenig geht es immer um dich. Wenn du willst, dass sich jemand versteht, dann rede mal Klartext und erwarte nicht, dass ich oder irgendjemand auf dieser Welt deine Gedanken lesen kann."

Das hatte gesessen. Wir beide standen uns gegenüber und sahen uns tief in die Augen. Sagten nichts. Eine angespannte Stille lag den Raum, die mich beinahe zu erdrücken schien. Das einzige, was man hören konnte, waren Graysons und meine Atemzüge. Ein, aus, ein, aus. Ich öffnete kurz meinen Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber schnell wieder. Was sollte ich sagen? Wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst war, musste ich mir eingestehen, dass ich falsch lag. Vielleicht hatte Grayson Recht mit dem, was er vorhin gesagt hatte, und ich verlangte manchmal zu viel von meinen Mitmenschen. Sie konnten mich nicht verstehen, so war ich einfach.

Dann geschah etwas, das ich niemals von mir selbst erwartet hatte: "Du hast recht. Es tut mir leid." Grayson sah mich weiterhin an und sagte gar nichts. Ich holte tief Luft und fing an zu erzählen: "Als ich dir vorhin gesagt habe, dass es bei mir zuhause drunter und drüber geht, hab ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich hab dir erzählt, dass meine Mom ihren Frust an uns auslässt. Nicht nur verbal." "Sie schlägt euch?", fragte Grayson ungläubig. Ich nickte sanft mit dem Kopf. "Ähhhm...okay, wow..." Er schien seine Gedanken nicht in Worte fassen zu können. Verzweifelt machte er einen Schritt nach hinten und fasste sich dabei mit der Hand an die Stirn, um sich seine Haare aus dem Gesicht zu streichen. "Amber, das wusste ich nicht. Es...es tut mir so leid", sagte er. "Das braucht es dir nicht. Ist schon okay." "Nein, ist es nicht. Das ist Kindesmisshandlung und muss strafrechtlich verfolgt werden." "Grayson, sie ist trotzdem noch immer meine Mutter. Wenn wir sie anzeigen, werden wir ihr weggenommen und das will ich nicht. Außerdem könnte mir Noah das nie verzeihen", antwortete ich ihm verzweifelt. "Wenn du meinst. Aber irgendwas muss man doch tun können", entgegnete er. "Glaub mir, wenn es noch etwas gäbe, das helfen würde, hätte ich es schon längst getan."

"Darf ich dich was fragen?", setzte er an. "Kannst du machen, aber es ist nicht sicher, ob du eine Antwort erhältst", antwortete ich ihm. "Okay, also gestern, als du dachtest, dass ich dich beim Umziehen beobachtet habe, hast du danach irgendwelche Narben an deinem Rücken erwähnt. Sind sie...sind sie von deiner Mutter?" Stocksteif stand ich da. Immer und immer wieder diese verdammten Narben. Ich hasste sie, und ich wünschte, sie wären nicht da und wären nie da gewesen. Durch meine dunkle Hautfarbe traten die Narben noch mehr in den Vordergrund und entstellten meinen Oberkörper im Ganzen. Von hinten sah ich aus wie ein beschissener Krüppel, meine Haut war übersät von Narben. Aber ich wusste, dass ich meine Narben nicht immer leugnen konnte, und sie eben nun ein mal ein Teil von mir waren, ob ich es wollte oder nicht.

Ich blickte auf den Boden und antwortete mit einem kurzen "Mmh..." Zu mehr war ich nicht in der Lage. "Das ist jetzt vielleicht auch ein bisschen zu viel, aber...darf ich sie sehen?" Wow. Mit dieser Frage hatte ich sowas von überhaupt nicht gerechnet. Nie hätte ich erwartet, dass ich diesen Satz je aus dem Mund eines anderen hören würde. Ich wollte jeden vor diesem unausgesprochen hässlichem Anblick verschonen, deshalb antwortete ich mit einem knappen "Nein." "Ist okay. Tut mir leid wenn das zu weit ging."

Peinliches Schweigen. Wir wussten beide nicht so richtig, was er sagen sollte und wir standen beide stumm da und regten uns nicht. Grayson verschränkte seine Arme, als wolle er sich selbst schützen oder als wäre ihm kalt und blickte dabei auf den Boden. Ich währenddessen ließ meinen Blick gelangweilt durch den Raum schweifen und betrachtete dabei die einzelnen Geräte, die ich zuvor gar nicht so richtig wahrgenommen hatte. Neben den Isomatten hinter den Kleiderschrank gab es auch noch einige Steppbretter, einen Crosstrainer, ein paar Hanteln und natürlich eine Boxbirne. Als ich auf die Boxbirne blickte, kam mir die Idee, wie wir diese peinliche Situation beenden konnten: "Grayson, wie wäre es, wenn ich dir jetzt etwas Boxen beibringe?" Grayson wirkte zuerst etwas überrascht, schien aber dennoch froh darüber zu sein, eine Beschäftigung zu haben, kratzte sich am Hinterkopf und antwortete mit einem schelmischen Grinsen: "Von mir aus."

"Gut, dann fangen wir direkt an. Erstmal solltest du wissen, dass man generell beim Boxen immer Handschuhe tragen sollte, um nicht dauerhaft Schäden zu bekommen. Aber da wir leider im Moment keine Handschuhe und Bandagen zur Verfügung haben, müssen wir leider eine kleine  Ausnahme machen. Verstanden?" "Jep", sagte Grayson und bewegte sich langsam mit mir in Richtung Boxsack. "Dann fangen wir mal an mit der Grundstellung. Nimm deinen rechten Fuß weiter nach vorne, genau so, und geh dabei etwas in die Knie. So, und jetzt nimmst du deine Hände überkreuzt vor deinen Oberkörper und benutzt sie mit als Deckung." Grayson verfolgte meine Anweisungen und schaffte es sogar halbwegs, ihnen zu folgen, sodass er am Ende in einer ganz akzeptablen Haltung dastand. "Zieh deine rechte Hand noch etwas näher an deinen Körper", befahl ich Grayson und verbesserte seine Handstellung, indem ich seine Hand nahm und weiter in Richtung seiner Brust zog. "So, und jetzt zeig mal was du schon so drauf hast. Schlag zu!", sagte ich und deutete auf die Boxbirne.

Grayson ging einen Schritt zurück und ging in eine Haltung, die so etwas wie eine Angriffsstellung sein sollte. Er holte tief Luft, war kurz vor dem Schlag...und ließ seine Arme fallen. "Amber, ich kann das nicht. Ich muss die ganze Zeit über deine Mutter nachdenken, besonders, wenn ich jetzt hier Boxen soll, und kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Irgendwas muss man doch machen können."

STUCKWhere stories live. Discover now