11. Kapitel

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Amber

„Auf guten Waffenstillstand, Grayson", sagte ich und lächelte Grayson dabei sanft an. Er grinste erleichtert zurück. Das erste Mal sah ich den Jungen vor mir von nahem, ohne ihn dabei anzuschreien. Er hatte eine zarte Haut, die von einigen Sommersprossen auf seiner schmalen Nase und seinen Wangen verziert wurden. Wenn er lächelte, zeichneten sich kleine Grübchen auf seiner Wange ab, die zu seinen ausgeprägten Wangenknochen einen süßen, starken Kontrast bildeten. Seine Augen waren eine Mischung aus grau und blau, ganz eisig und kalt. Mein Blick wanderte in Richtung seiner Lippen.

Schließlich ertappte ich mich dabei, wie ich zu lange auf ihn gestarrt hatte, und rasch wich ich einen Schritt zurück. Ich hatte schon Angst, dass ich nun von Grayson eine Standpauke zu hören bekam, warum ich ihn den anstarren durfte und er vorhin von mir dafür angebrüllt und beleidigt wurde, aber da fiel mir wieder ein, dass wir beide uns ja auf Waffenstillstand geeinigt hatten. „Hey, entspann dich, ich tu dir nichts. Schon vergessen, keinen Streit mehr und so?", lachte er. Erleichtert ließ ich einen Seufzer los und antwortete ihm mit einem schüchternen „Okay"

„Wie wäre es eigentlich, wenn wir mal in den Geräteraum gehen? Da ist es zumindest ein kleines bisschen wärmer als in diesem ekligen und kleinen Vorratskämmerchen", fragte er mich. Als Antwort ging ich nur in Richtung Tür, öffnete sie und deutete Grayson mit einem Handzeichen, dass ich ihm den Vortritt durch die Tür lassen würde. Er kam mir näher und machte einen kleinen Knicks, bei dem er mit beiden Händen ein unsichtbares Kleid anhob, spreizte dabei vornehm seine kleinen Finger ab und beugte seinen Kopf nach unten, um eine Prinzessin nachzuahmen. Langsam entwickelte ich eine leichte Sympathie für diesen Jungen. Er konnte echt witzig sein, wenn er nicht immer so verklemmt sein würde.

Mittlerweile waren wir beide im Geräteraum angelangt und Grayson sah mich an, als würde er mich etwas fragen wollen. Fragend hob ich eine Augenbraue. „Ähm, kannst du mir sagen, woher du die lila Jogamatte die da neben der Tür liegt hast?", wollte er wissen. „Klar, gleich hinter dem Schrank da hinten", sagte ich und deutete auf die Regale auf der anderen Seite des Raums. „Da?", fragte er und zeigte auf das Regal ganz links, in dem auch die Kiste mit den Trikots stand. „Ne, weiter links!", rief ich ihm zu. „Hier?", sah er mich wieder fragend an und ging in Richtung des zweiten Regals. „Mhm", murmelte ich und schleppte dabei die bereits vorhin geholte Matte in die Mitte des Raums. „Hab sie", ließ er mich wissen und zog an einem Zipfel einer Matte, die bereits ein kleines Stück hinter dem Regal hervorragte. Er zog heftiger und wurde mit etwas zu viel Schwung nach hinten gerissen, sodass er beinahe hinflog und sich noch an der anderen Wand abfangen musste. Erschrocken fasste ich mir mit beiden Händen an den Mund und hielt die Luft an, da der Beinahe-Sturz im ersten Moment ziemlich gefährlich aussah. Jedoch richtete er sich schnell wieder auf, sah mich an und beruhigte mich mit einem peinlich berührten Grinsen, zu dem er ein schnelles „Mir geht's gut" hinzufügte. Erleichtert atmete ich aus. Ein Verletzter hätte uns gerade noch gefehlt.

Schließlich gelang es ihm unfallfrei, seine Matte ebenfalls in die Mitte des Raums zu ziehen und er gesellte sich zu mir. Ich hockte mich im Schneidersitz auf den Boden und Grayson tat mir gleich.

„Aaaalso...Da wir ja jetzt vermutlich etwas länger hier drinnen sitzen werden, will ich mehr über dich wissen. Lass uns wirklich 20 questions spielen, aber ich fang an", setzte ich an. Nachdem er mir zustimmte, fing ich an, meine erste Frage zu stellen: „Was ist dein Ding?". Verwirrt sah er mich an. „Ich meine, was sind so deine Hobbies, was ist deine größte Leidenschaft, wofür brennst du richtig?", fragte ich ihn. „Achsoooo", sagte er und dachte lange nach. Dabei schaute er an die Decke und hieb einen Mundwinkel, das sah echt süß aus. „Ich weiß nicht. Also ich lese sehr gerne, wenn das zählt", antwortete er mir. „Lesen, echt jetzt?", fragte ich und bemühte mich dabei, nicht unfreundlich zu klingen, um nicht wieder einen neuen Streit zu erzeugen. „Ja, lesen ist cool und es wird von vielen Menschen völlig unterschätzt", wehrte er sich und wirkte dabei sehr überzeugt von seiner eigenen Meinung. „Hm, wenn du meinst. Ich glaub, ich hab seit gefühlt zehn Jahren kein Buch mehr in die Hand genommen", gab ich zu. „Echt jetzt? Du verpasst was. Ich weiß gar nicht, wie ich es aushalten würde ohne Bücher. Lesen ist mein Leben! Ich meine, man kann doch in eine komplett neue Welt eintauchen, raus aus seinem einen kleinen mickrigen Leben und ganz viele Abenteuer erleben. Uh, aber bitte sag mir, du kennst wenigstens Harry Potter!?", platzte es aus ihm raus. Ich setzte zum Reden an, aber er unterbrach mich mit einer Geste, bei der er eine Flache Hand zeigte und wegschaute, um mir zu zeigen, dass er noch etwas hinzufügen wollte: „Warte, lass mich raten, du hast nur die Filme geschaut, oder?" „Ich kenn nur den Trailer zum 1. Teil, das ist alles", gab ich zu. Mit großen Augen sah er mich an und sagte mir entschlossen: „Amber Ich-kenne-deinen-Nachnamen-nicht, ich kann es nicht fassen. Wir müssen definitiv eine große Bildungslücke ausfüllen. Zum Glück haben wir ja Zeit" „Croney", sagte ich. „Was?", fragte er. „Mein Nachname. Croney. Ich heiße Amber Croney, nur damit du es weißt.  Und von mir aus kannst du mir auch erzählen, was in Harry Potter  passiert, aber nur, wenn dieser Scott nicht kommt, okay? Dann haben wir sicher noch mehr unnötige Zeit, die wir mit so einem Schwachsinn wie Harry Potter füllen können. Aber jetzt lass uns weiter 20 questions spielen. Du bist dran mit Fragen", erklärte ich ihm. „Okay", sagte er.

„Und was ist dein Ding?", fragte er mich, worauf ich antwortete: „Das ist ja langweilig. Boxen. Definitiv Boxen." „Stimmt, hätte man sich denken können. Wie lang boxt du schon?", fragte er mich. „Seit ungefähr drei Jahren", antwortete ich ihm. Da mir das Thema allerdings etwas unangenehm war, wollte ich schnell wieder auf ein anderes Thema ablenken: „Ich bin wieder dran mit Fragen. Wenn du dir eine Superkraft auswählen könntest, was würdest du nehmen?" Es brauchte nicht lange, bis er mir antwortete, im Gegenteil, wie aus der Pistole antwortete er „die Zeit zurückdrehen und verändern". Plötzlich veränderte sich Graysons Miene und er blickte finster auf den Boden. Mir wurde klar, wieso. Er selbst hatte gerade unbewusst den GAYSON-Skandal angesprochen, ohne es direkt auszusprechen. Wir wussten beide, was er mit seiner Aussage gemeint hatte.

Aber eine Abmachung war ja gewesen, nicht über dieses heikle Thema zu sprechen, und das wollte ich ihm auch nicht antun, also antwortete ich sofort. „Ich glaube, ich würde am liebsten fliegen", um vom Thema abzulenken. Meine Aussage stimmte nicht mal, aber ich hatte mein Ziel erreicht:

Sein Gesicht erhellte sich wieder.

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Dieses Kapitel wird MaleaSkye gewidmet, weil sie eine tolle Freundin ist und ich unglaublich stolz auf sie bin für das, was sie in den letzten Wochen erreicht hat.❤️


STUCKWhere stories live. Discover now