5. Kapitel

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Amber

„Mein Name ist übrigens Grayson, falls du es dir mal anders überlegst und aufhörst, mich die ganze Zeit mit irgendwelchen blöden Schimpfwörtern zu bombardieren, die etwas mit dem überdurchschnittlichen Vermögen meiner Eltern zu tun haben", antwortete der Junge gereizt. Daraufhin antwortete ich mit einem knappen „Träum weiter!" Der Junge öffnete kurz den Mund, um darauf etwas zu kontern, schloss ihn jedoch bald wieder. Schlagfertig war er ja nicht gerade. Gott, wie ich diesen Typen nicht ausstehen konnte. Im Moment war mir noch unklar, wie ich dieses Wochenende mit ihm überleben würde. Was könnte denn alles passieren? Ich könnte verhungern, unerwartet krank werden, die ganze Welt um uns herum könnte einstürzen und wir könnten nichts tun, wären eingesperrt bis ans bittere Ende. Immerhin hatte ich keine Angst hinsichtlich der Tatsache, dass er mich angreifen könnte, da ich schon einiges an Schlägen gewohnt und mit Abstand die Stärkere von uns beiden war.

„Weißt du, wenn du das Licht im Flur angelassen hättest, dann wäre ich nicht über den Türstopper gefallen, die Tür wäre nicht zugeschlagen und wir würden hier nicht feststecken", sagte Grayson und heizte damit nochmal den Streit, den wir schon vor wenigen Minuten geführt hatten, auf. „Was soll das denn jetzt heißen? Willst du etwa sagen, dass ich daran Schuld bin, dass wir hier feststecken?", keifte ich zurück und merkte dabei, wie ich immer angespannter wurde. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und war kurz davor, auf ihn loszugehen. Er antwortete darauf: „Nicht unbedingt, aber ich finde, dass du auch Mitschuld an unser Situation trägst. Also kannst du nicht mir alleine die Schuld in die Schuhe schieben, reg dich ab und lass uns wie vernünftige Menschen reden, anstatt die ganze Zeit auf mich einzuhämmern, wie doof ich sei, wie eingebildet, warum ich die Tür zugeschlagen hab, und, und, und ... wir können es nicht ändern, okay?" Ich seufzte. Verdammte Scheiße. Was sollten wir jetzt tun? Ich hoffte zu sehr, dass dieser Scott, der Angestellte von Graysons Eltern, bald kommen und uns befreien würde. Aber Grayson hatte ja schon zugegeben, dass das frühestens morgen sein wird, wenn er überhaupt kommen würde. Wenn nicht, dann würden wir hier ganze 62 Stunden feststecken...

Auf einmal überkam mich eine gewaltige Wut, die ich nicht mehr zurückhalten konnte. „Scheiße, scheiße, scheiße", fluchte ich und fing an, auf die Boxbirne, die unglücklicherweise genau in meinem Weg hing, einzuschlagen. Ein Schlag, dann noch ein Tritt, und noch ein weiterer Schlag. Ich fing an, zu schwitzen. Die Technik meiner Schläge war komplett falsch, aber gerade hatte ich nicht den Nerv dazu, irgendwie auf meine korrekte Ausführung zu achten, sondern musste einfach meine Aggressionen loslassen. „Argh!", rief ich und schlug ein weiteres Mal auf die Boxbirne ein. Langsam gingen mir die Kräfte aus und ich merkte, wie meine Schläge immer schwächer wurden. Frustriert beendete ich meinen Angriff auf die Boxbirne und blickte zu Grayson. Dieser stand ziemlich verwirrt an der Seite und hatte diesem ganzen Spektakel wortlos zugesehen. Wie es schien, war er auch ein Stück nach hinten gewichen. Er sah mir in die Augen, doch ich konnte seinem verstörten Blick nicht standhalten. Keine Ahnung, was gerade in ihm vorging. Ich musste sofort weg von hier, raus aus diesem Raum, am besten so weit weg, dass ich diesen Jungen nie wiedersehen müsste. Aber frustriert stellte ich wieder fest, dass ich nicht weg von hier konnte. Schnell entschloss ich mich dazu, in den Vorratsraum zu flüchten. Ich riss ich die Tür auf, ging durch sie hindurch und knallte sie mit voller Wucht wieder zu. Wenn Grayson auch nur ein paar Hirnzellen im Kopf hatte, würde er mir hoffentlich erstmal nicht nachlaufen.

Verzweifelt ließ ich mich auf den Boden sacken, lehnte mich gegen die Tür und zog meine Beine so nah an mich ran, wie es nur ging. Dann ließ ich meinen Kopf auf die Knie nieder und vergrub mein Gesicht darin. Langsam merkte ich, wie erschöpft ich eigentlich war, und eine gewisse Müdigkeit stellte sich bei mir ein. Mein Körper hatte sich beruhigt und ich konnte wieder normal atmen. Dann beschäftigte ich meine Zeit damit, zu lauschen. Aus dem Geräteraum hörte man keinen Mucks, deshalb vermutete ich, dass Grayson gerade vermutlich auch nachdachte. Für ihn war dieses Wochenende, bei dem wir in diesem Keller eingesperrt waren, nichts weiter als zwei verlorene Tage. Zwei Tage weniger Polo spielen, golfen oder segeln vermutlich. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, was für große Auswirkungen dieses Wochenende für mich und meine Familie hatte.

Am meisten Sorgen machte ich mir um meinen Bruder Noah. Er war gerade mal sieben Jahre alt und musste schon so viel Schreckliches miterleben. Ich wusste nicht, wie es ihm gerade ging, aber ich stellte mir vor, wie er in seinem Bett lag, die Bettdecke bis zum Kinn, und sich fragte, wo ich war. Aber ich wusste auch, dass er meine Mutter sicher nicht fragen würde, wo ich steckte, denn diese wusste eh nie, wo sich ihre Kinder befanden und was sie so trieben. Ihr war total egal, was ich machte. Aber wenn sie mal wieder ihre Wut an jemandem anlassen musste, oh ja, dann benutzte sie ihre Kinder dafür. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was sie alles Noah antun könnte.

Nachdem mein Vater unsere Familie verlassen hatte, hab ich angefangen, meinen kleinen Bruder größtenteils alleine zu erziehen. Meine Mutter hatte mittlerweile ein großes Alkoholproblem entwickelt und war keine große Hilfe, und deshalb blieb alles an mir hingen. Ich war die einzige, die sich in meiner Familie um Noah kümmerte und die interessierte, wie es ihm ging. Aber jetzt hatte auch ich ihn im Stich gelassen.

Und das erste Mal seit langer Zeit fing ich an, zu weinen.

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Dieses Kapitel wird wolfsschwester03 gewidmet, weil sie eine treue Followerin und Readerin ist und noch dazu eine tolle und außergewöhnliche Freundin <3

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