15. Kapitel

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Amber

„Verstehst du dich schlecht mit deiner Familie oder warum wissen sie nicht, dass du boxen gehst?", fragte er mich.
Ich hätte mit jeder Frage gerechnet, nur nicht mit dieser. Grayson hätte mich auf meinen dunklen Hautton ansprechen können, woher meine Eltern stammen, so wie es fast jeder fragte, der mich kennenlernte. Er hätte mich fragen können, was es mit den Narben auf sich hat oder so was ähnliches, aber stattdessen ging er auf meine Familienverhältnis ein, was mich sehr verwunderte.
Ich überlegte. Für mich waren Familie und Freunde bisher immer zwei komplett unterschiedliche Sachen gewesen, deshalb versuchte ich, mich in der Schule möglichst wenig von meiner Familie preiszugeben; Mit meinen Freunden sprach ich nie über meine Mutter oder meinen Bruder, dennoch hatte ich irgendwie das Gefühl, Grayson etwas schuldig zu sein, nach all dem, was er heute über sich erzählt hat. Hoffentlich würde ich ihm eh nach diesem Wochenende nie wieder begegnen.
Also fing ich an zu erzählen: „Irgendwie liegt das an vielen Gründen, warum ich meiner Mutter nichts vom Boxen erzähle. Wo soll ich anfangen? Meinen Vater habe ich schon seit acht Jahren nicht mehr gesehen, der interessiert sich sowieso für gar nichts, was mich betrifft. Ich lebe zusammen mit meinem kleinen Bruder und meiner Mom. Und über meine Mutter muss man erstmal wissen, dass sie ein starkes Alkoholproblem hat und eigentlich immer nur entweder wütend oder frustriert ist, wenn ich zuhause bin. Man kann es ihr also generell nie mit irgendwas Recht machen.
Aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum ich boxen gehe, ohne meiner Mutter davon zu erzählen." Ich atmete tief ein und aus. „Oh Mann, was tue ich hier eigentlich...?", fragte ich teils Grayson, aber hauptsächlich mich selber.
„Ist schon okay", war alles, das Grayson darauf antwortete. Ziemlich überraschend entschloss ich mich dazu, mich wieder auf die andere Körperseite zu drehen, sodass ich ihm direkt in die Augen sehen konnte.

"Alles hat angefangen, als mein Vater meine Mom und mich vor paar Jahren verlassen hat. Ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wie sie war, bevor sie angefangen hat, zu trinken. Jedenfalls hat sie anfangs noch ihren Konsum im Griff gehabt, aber dann wurde sie vor 2 Jahren gefeuert und seitdem kommt sie nicht mehr vom Alkohol weg. Sie trinkt durchgehend und gammelt nur noch total besoffen in unserer Wohnung rum. Aber anstatt etwas an ihrer Situation zu ändern, lässt sie ihre Wut und ihren Frust an uns aus." Bis dahin schaffte ich es, zu erzählen, aber dann hielt ich es nicht mehr aus.

"Tut mir leid, aber es ist einfach etwas ungewohnt für mich, darüber zu reden...", ließ ich Grayson wissen. Er antwortete: "Schon okay. Nimm dir so viel Zeit dafür, wie du brauchst", wirkte dabei aber schon etwas schläfrig. "Okay", sagte ich. "Mmmh", sagte er und wirkte dabei etwas abwesend.

"Naja, also meine Mom ließ ihren Frust an uns aus und irgendwann hab ich es eben nicht mehr ausgehalten. Ich habe irgendeine Möglichkeit gebraucht, diesem ganzen schrecklichen Alltag zu entfliehen, und wollte sowieso zu dieser Zeit mehr Sport machen. Und vor allem wollte ich mich gegen meine Mutter wehren können. Deshalb hab ich angefangen zu boxen", erzählte ich ihm. "Wenn ich meiner Mutter erzählen würde, was ich in meiner Freizeit tue, würde sie komplett ausrasten und mir auf der Stelle das Boxen verbieten, obwohl ich den Vereinsbeitrag sogar selber bezahle. Naja, und deswegen weiß meine Mutter nichts davon, dass ich hier boxen gehe", erzählte ich Grayson. "Und was ist mit deinem Bruder?", fragte er mich. "Was soll mit ihm sein?", entgegnete ich und er antwortete mir: "Du hast gesagt, deine Mutter weiß nichts davon, dass du boxen gehst, aber von deinem Bruder hast du nicht geredet. Also kennt er dein Geheimnis?" "Ja, ihm hab ich es mal erzählt, aber ich glaube, er versteht noch nicht so ganz, was und wieso ich das hier mache", antwortete ich. "Na dann."

Stille. Nachdem ich gerade so viel von mir preisgegeben hatte, war ich erstmal total überwältigt von mir selbst. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, so viel von meiner Familie erzählt zu haben:  Auf der einen Seite fühlte es sich gut an, sich mal aussprechen zu können, aber zum anderen wusste ich auch nicht , wie Grayson mit meiner Geschichte umgehen würde oder ob er sie womöglich weitererzählen könnte, deswegen hatte ich etwas Angst. Von Grayson kam keine Reaktion.

Es war so dunkel in dem Keller, dass man nur einzelne Dinge erkennen konnte, wenn man nah an sie herantrat und genau betrachtete. Mittlerweile war es bestimmt weit nach Mitternacht und unsere Müdigkeit war im ganzen Raum wie ein Schleier, der sich über den ganzen Raum verbreitet hatte,  zu spüren. Irgendwie hatte die ganze Situation etwas Beruhigendes, Friedliches in sich. Obwohl ich gerade mit einem Jungen, den ich gerade mal vor einigen Stunden kennengelernt hatte, in einem Raum feststeckte und in absehbarer Nähe auch nicht weggehen konnte, schien die Situation im Moment gar nicht so schrecklich, im Gegenteil: Ich fühlte mich gerade sicher und geborgen und ich empfand meine Lage bei weitem nicht mehr so grotesk und befremdlich, wie ich es am Abend noch getan hatte.

Erst dann fiel mir auf, dass ich lange keine Reaktion mehr von Grayson gehört hatte. "Grayson?", fragte ich. Keine Antwort. "Grayson?"

Vorsichtig näherte ich mich ganz nah seinem Gesicht. Seine Augen waren geschlossen und ich konnte seinen tiefen, sanften Atem in meinem Gesicht spüren. Er war eingeschlafen.
Vorsichtig näherte ich mich mit meinen Lippen seinem Ohr und flüsterte ihm sanft ins Ohr: "Danke, Grayson."

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Dieses Kapitel wird unserer treuen Followerin Feather-Moon gewidmet, danke für den vielen Support!😊

STUCKWhere stories live. Discover now