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Ich konnte nichts sehen, da ein Tischbalken vor meinem Gesicht war. Doch ich hörte wie die Tür zuknallte, und sich Xavier auf der Bank niederließ. Ich vernahm ein klackendes Geräusch, ich glaube von einer Plastikflasche. Scheinbar trank er gerade. Danach vernahm ich Tippgeräusche des Handys. Mit wem er wohl schrieb?

Kurze Zeit später hörte ich seine Schritte. Es hörte sich so an, als ob er direkt auf mich zu gehen würde. Und das tat er auch. Ich verkroch mich immer mehr in der Ecke, und hoffte, dass er mich nicht entdeckte. Glücklicherweise schien er nur irgendwas auf dem Tisch abzustellen.

Als er weg ging riskierte ich noch mal einen Blick. Xavier ging nur in Boxershorts bekleidet zu seiner Tasche. Doch nicht die Tatsache, dass er halbnackt war, war es was mich den Atem anhalten ließ. Denn was ich an seinen Beinen sah, ließ mich stocken. Da waren Narben. Aber keine normalen Narben, nein. Diese Narben kannte ich nur zu gut.

Es waren Schnitte von Messern und Rasierklingen. Der beliebteste Junge der Schule ritzte sich.

Warum verletzte er sich selbst? Kriegt er nicht wie jeder Badboy alles in den Arsch geschoben? Ich dachte er wäre reich, hätte Freunde und jeder würde ihn lieben.

Eigentlich ritzt man sich vor allem aus Selbsthass. Zumindest war es bei mir so. Dabei ist er doch der selbstverliebteste Typ auf dieser Schule! Oder ist das alles nur eine Fassade? Spielt er allen seine Arroganz nur vor? Verwendet er sie als Schutzmauer, um keine Schwäche zu zeigen?

In meinem Kopf schwirrten nichts als Fragen, doch meine Gedankengänge wurden von dem Prasseln der Dusche unterbrochen. Es ist wirklich kein Wunder, dass er sich beim Sport, so beeilt. So kann er früher gehen, und sich schon mal abduschen, damit die anderen Jungs seine Narben nicht sehen.

Eigentlich wäre das jetzt meine Chance hier wegzukommen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Ob es mein Bauchgefühl war, oder doch etwas anderes, konnte ich nicht sagen.

Die Dusche ging aus, und ich hörte wie er zu seinen Sachen ging. Es war schon komisch, dass er sich direkt vor mir umzog, doch ich guckte nicht. Jeder braucht schließlich ein gewisses Maß an Privatsphäre. Ich will ja nicht zum Stalker mutieren. Dann vernahm ich das Geräusch vom Sprühen einer Deoflasche. Der Geruch, der mir in die Nase stieg war einfach nur toll. Anders konnte man ihn nicht beschreiben.

Dann hörte ich Stimmen, die immer näher kamen. Laut grölend kamen die anderen Jungs reingeplatzt. Die Tür schwang auf und knallte gegen die graue Wand.
„Na wieder mal fertig mit allem?", hörte ich Kay Xavier fragen. Dieser gab nur ein zustimmendes Brummen von sich.

„Ich hab übrigens ein neues Mädchen aufgerissen!", meinte ein Junge prahlend. Seine Stimme konnte ich nicht identifizieren. Das Einzige, was ich wusste war, dass er ein absoluter Mistkerl ist.
„Wen denn?", fragte Leo ohne jegliches Interesse in seiner Stimme.
„Lucy aus meinem Mathekurs! Glaubt mir, die war gut im Bett! Hat sich aber mehr erhofft. Mein nächstes Ziel ist Melina Anderson.", meinte der Widerling.

Glaub mir, Melli kriegst du nicht rum.

Warum denn ausgerechnet Melina?", fragte Leo nun gereizt. Ich musste lächeln. Vielleicht ist er ja doch garnicht so schlecht für Melli.
„Warum denn nicht?", fragte der Kerl dümmlich.
„Checkst du es wirklich nicht, Bruno oder tust du nur so?", mischte sich Nate, ein Junge aus meinem Chemiekurs ein. Das Arschloch ist also Bruno. Hätte ich mir eigentlich denken können. Ich kann ihn seit der fünften Klasse nicht leiden. Schon damals hat er angefangen zu rauchen und zu trinken. Eigentlich bin ich ja der Meinung, jeder kann selbst entscheiden, was er mit seinem Körper macht und wie er ihn verunstaltet. Aber mit 10 Jahren ist sowas schon ziemlich krass.

„Ach so jetzt versteh ich, du willst sie auch! Also wenn du keine Lust auf nen flotten Dreier hast, kannst du die Hure gerne nach mi...", weiter kam Bruno nicht, denn Leo prügelte voller Wut auf ihn ein. Ich hörte ein Knacken, und ging stark davon aus, dass die Nase von ihm gebrochen ist. Ich riskierte einen Blick, und sah, dass  Xavier Leo von dem am Boden liegenden Bruno weggezerrte.

„Komm, lass gut sein. Das bringt jetzt auch nichts. Wenn sie schlau genug ist, und dich verdient, dann wird sie nicht auf ihn anspringen.", sagte Xavier in einem beruhigenden Tonfall. Leo nickte ergeben, und ließ die Schultern fallen.
„Ich kann den Gedanken, dass er sie anmacht und vielleicht sogar mit ihr im Bett landet einfach nicht ertragen.", sagte er so leise, dass es eigentlich nur Xavier, aber auch ich hören konnte, da sie dicht am Tisch standen.

„Ich würde sagen, wir rufen einen Krankenwagen, oder? Wegen der Nase.", erklärte Miro, der beste Freund von Nate. Die anderen haben scheinbar nichts von dem Austausch zwischen Xavier und Leo mitbekommen.
„Lass uns erstmal zu Herrn Winkie gehen.", meinte ein anderer Junge.
„Na dann, wer kommt mit?", fragte Nate.
Von allen war ein „Ich" zu hören, außer von Xavier. Selbst Leo sagte Ja, da er sich entschuldigen wollte, um die Strafe zu mildern.

Ich hörte, wie die anderen gingen, und es ganz still im Raum wurde. Ein Seufzen folgte darauf. Dann kam eine ganze Weile gar nichts. Ich schaute kurz hinter dem Balken hervor, und sah, dass Xavier mit geschlossenen Augen und dem Kopf an der Wand angelehnt erschöpft da saß.

Das Klingeln eines Handys ließ uns beide aufschrecken. Ich hörte, wie er einen zusammenfahrenden Laut von sich gab. Mein Kopf schnellte nach rechts, um zu schauen, ob es mein Handy war. Ich atmete leise und erleichtert auf. Glück gehabt. Wenn nicht einer der anderen Jungs sein Handy vergessen hat, dann muss es Xavier's sein. Dies bestätigte sich, als Xavier mit einem fragenden: „Hallo?" ranging.
Aus dem Hörer war Gebrüll zu hören. Es war so laut, dass ich jedes einzelne Wort verstehen konnte. Ich erschauderte.

„ Du mieses Arschloch! Ich wusste doch, dass du es warst!"
„Was war ich?", fragte Xavier eingeschüchtert, aber auch verwirrt.
„Jetzt tu doch nicht so! Du hast wieder das ganze Geld verspielt! Erst verspielst du somit die Medikamente deiner Schwester, und jetzt das!"
„Dad, ich schwör's ich hab nichts mehr verspielt! Seit einer Ewigkeit nicht mehr! Das weißt du doch! Bist du betrunken?"
„Nenn mich nicht Dad! Du bist nicht mein Sohn! So eine Missgeburt, wie du kann nicht mein Sohn sein!", kam es wieder brüllend aus dem Hörer. Als ich hinter dem Balken hervorlugte, sah ich, dass Xavier Tränen in den Augen standen. Er schluckte und hörte sich still die verletzenden Worte seines Vaters an.

„Hätten wir dich doch nur abgetrieben! Ich hasse dich!", brüllte er weiter.
„Ich wünschte du wärst tot, so wie es deine Schwester fast gewesen wäre! Dank dir!", schrie er völlig am Ausrasten. Darauf folgte ein klirrendes Geräusch, und es hörte sich an, als ob Glas zersplittert ist. Vermutlich eine Bierflasche. Danach vernahm ich ein Geräusch, was ich als Wutschrei ausmachen konnte. Dann zwei mal Piepen. Sein Vater hatte aufgelegt.

Das einzige was jetzt noch zu hören war, waren Xavier's Schluchzer. Eine ganze Weile weinte er. Es zerbrach mir fast das Herz dies mit anhören zu müssen. Erst als er sich wieder langsam beruhigte, beruhigte auch ich mich ein wenig. Er atmete einmal tief durch, stand er auf und machte das Waschbecken an. Vermutlich wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um die Spuren der Tränen weg zu waschen und die gereizten, roten Augen zu beruhigen. Danach nahm er sich seine Sporttasche und ging einfach.

Er ließ mich allein, geschockt und immer noch wie erstarrt in der stickigen Umkleide zurück. Mich, die gerade eines der dunkelsten Geheimnisse von ihm und seiner Familie erfahren hatte. Fast so als ob nie etwas gewesen wäre...

Sweet Lovin'Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang