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Ich muss jetzt unbedingt mit Mila telefonieren, dachte ich.

Xavier glaubte nur ans Gute, was Mila's Operation anging. Er hatte es auch verdient einfach mal mit den schlimmen Gedanken abzuschalten und positiv zu Denken. Ihr Zustand verschlechterte sich jedoch von Tag zu Tag mehr, die Bauchschmerzen wurden schlimmer und langsam halfen nicht mal mehr die stärksten Tabletten was. Da war es kein Wunder, dass die OP früher durchgeführt werden musste, geschweige denn davon, dass es auch kein Wunder war, dass Xavier's kleine Schwester nicht wollte, dass er wusste, wie schlecht es ihr ging.

Schweißgebadet drängelte ich mich zurück und als ich weg von den vielen, schwitzenden Jugendlichen war, lief ich schnurstracks auf das verführerisch duftende Buffet los. Ich schnappte mir schnell einen Stengel voller Weintrauben und ein paar Ananasstücken und ging dann durch einen Flur, bis zum Hinterausgang der Halle. Hier hatte ich wenigstens meine Ruhe im Gegensatz zum vorderen Haupteingang.

Als ich die Tür aufmachte, atmete ich erst einmal ein und aus. Die kühle Nachtluft tat gut und im Gegensatz zu dem stickigen, immer wärmer werdenden Inneren des Gemäuers war sie für meine erhitzten Wangen, wie eine Erlösung.

Bei Nacht sah hier alles anders aus. Die große Eiche vor mir warf gespenstische Schatten auf die grauen Wände der Halle und der Mond gab nur ein paar dumpfe Lichtstrahlen von sich. Je weiter man guckte, desto schwärzer wurde die Nacht und wenn man versuchte bis ans Ende des Horizontes zu Schauen, sah man nur noch mehr angsteinflößende Schatten und Silhouetten, die in vollkommene Dunkelheit gehüllt waren.

Ich achtete jedoch nicht weiter darauf und setzte mich auf eine der kühlen Treppenstufen. Andere Szenarien spielten sich gerade in meinem Kopf ab.

Was wenn sie schon dabei war operiert zu werden? Was wenn Mila die OP wirklich nicht gut überstand, wie sie mir erzählte? Was wenn sie starb ohne dass wir uns verabschieden konnten?

Mir war klar, dass ein Eingriff in die Bauchspeicheldrüse riskant war und niemand zu hundert Prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen konnte, dass alles gut werden würde. Es war eher eine fifty-fifty Chance. Ängstlich holte ich mein Handy mit der inzwischen abgespeicherten Nummer von ihr hervor und rief sie an.

Niemand ging ran. Dreimal versuchte ich es, doch es war immer das gleiche Ergebnis.

„Guten Tag. Hier spricht die Mailbox von 0172-"

Und da legte ich auf.

Vielleicht sollte ich mal Mona anrufen, dachte ich.

Ich war gerade dabei den Gedanken in die Tat umzusetzen, als der Pipton ertönte. Hatte sie etwa aufgelegt?Ich nahm das Handy vom Ohr und sah es an.

Besetzt.

Argh... Wieso verdammt noch mal jetzt?

Ich wartete zwei Minuten, doch dann war ich selbst die , die angerufen wurde. Und das von Mum.

„Kannst du bitte schnell kommen? Es ist ein Notfall", sprach sie in den Hörer, bevor ich sie auch nur begrüßen konnte.

Sofort sprang ich auf.

„Ja klar, aber was ist denn los?"

„Erzähl ich dir gleich. Bitte komm erstmal her"

Ihre Stimme war zittrig und nicht ihrer selbst. Scheiße, was war denn passiert?

„Okay, bin gleich da", antwortete ich schnell, legte auf und versuchte die Tür aufzureißen, doch es ging nicht. Verdammt, ich hätte wissen müssen, dass sie nur von Innen aufging.Ich musste also zum Eingang, von dem wir gekommen waren rumlaufen.

Ich sprintete förmlich zurück und als ich dann endlich in der Halle war, hielt ich hastig nach ihr Ausschau. Ich fand sie an einem der Tische mit Xavier und Kenneth und dem Sportlehrer, Mister Winkie oder auch Mark, wie ich ihn nennen sollte. Unter anderen Umständen, hätte ich mir vielleicht Gedanken darüber gemacht, dass er an dem Tisch saß, doch nicht jetzt. Sie diskutierten alle lautstark und die anderen Gäste warfen ihnen genervte Blicke zu, doch das störte sie nicht. Xavier schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen und ich sah meinem Bruder an, dass es ihm genauso ging. Der Einzige, der noch einen einigermaßen ernsten und gefassten Eindruck machte, war Mark.

Schnellen Schrittes ging ich zu ihnen und versuchte herauszufinden, um was es bei dem Streit ging.

„Wir müssen da hin, verdammt nochmal! Ist mir egal, was du jetzt sagst, Mum. Ich fahre jetzt zu ihr", gab Kenneth fast schon schreiend von sich und ging einfach.

„Ich komm mit", meinte Xavier und lief ihm hinterher. Mum, die aufgelöster gar nicht sein könnte, sah den beiden mit Tränen in den Augen nach, während Mark ihr tröstend die Hand auf die Schulter legte.

„Kannst du mir bitte mal erklären, was hier los ist?", zischte ich.

„Halt die beiden bitte davon ab, zu Mila zu Fahren. Es ist doch ihr Ball und da sollten sie Spaß haben und-"

Ich zog die Augenbrauen zusammen.

„Warum wollen sie zu Mila fahren?", unterbrach ich sie und Angst vor dem, was ich mir eben noch so ausführlich vorgestellt hatte erfüllte mich.

„Naja, Mona hat eben angerufen und ihre Tochter hat scheinbar Komplikationen bei der Operation und deswegen wollen die beiden-"

„Bye", meinte ich und rannte los.

„Hält du sie von ihrer dämlichen Idee ab?", schrie sie mir hinterher, doch ich ließ die Frage unbeantwortet. Ich war schon aus der Halle.

Draußen angekommen lief ich weiter zu den Autos und sah, wie die beiden in Kenneths Wagen saßen und ausparkten. Gerade noch bevor sie wegfuhren sahen sie mich. Ich war auch schwer zu Übersehen, so wie ich mit ausgestreckten, wedelnden Armen, als würde ich versuchen zu Fliegen auf sie zu lief. Kenneth, der am Steuer saß hielt ungeduldig nochmal an und sobald ich im Auto saß, fuhren wir ruckartig los, so dass ich mit einem Ruck gegen die Sitze gedrückt wurde.

„Was für Komplikationen hat sie?", fragte ich, während ich immer noch versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.

„Sehe ich aus, wie ihr motherfucking Chefarzt?", fuhr mein Bruder mich an.

„Nein", murmelte ich.

„Na also"

Ich beließ es einfach dabei und hing genau wie die zwei Jungs meinen eigenen Gedanken hinterher.

Sweet Lovin'Where stories live. Discover now