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Xavier

Als es endlich zum Schulschluss klingelte, stürmten die meisten sofort aus dem Klassenzimmer. Ich war einer davon.

Der junge Vertretungslehrer, der uns komplett entrüstet anguckte, und vergeblich versuchte den Kurs noch irgendwie in den Griff zu kriegen, gab nachdem nur noch die letzten Streber oder Personen, die ansatzweise Respekt vor ihm hatten da saßen, auch auf, und erlöste auch sie kopfschüttelnd von ihrem Leid.

Manchmal konnten einem die Lehrer wirklich leid tun. Manchmal.

Ich ging gerade aus dem Gebäude, als ich Luce, Melina und Amber entdeckte. Soweit ich weiß hatten die anderen schon Schluss, und gammelten vermutlich gerade zuhause herum.

Sofort begann ich zu lächeln. In meinem Bauch kribbelte und rumorte es, als ich auf sie zu schlenderte.

Ich hätte wirklich weniger von Moms Gebackenem essen sollen. Mein Magen war heute total überfordert.

„Na?", fragte ich, als ich bei den dreien ankam.
„Hey", begrüßten sie mich.
„Was habt ihr jetzt noch so vor?", fragte ich.
„Ich werd gleich noch zu Leo gehen, er hatte heute nur fünf Stunden und ist deshalb vorgegangen", antwortete Melli.
„Mein Onkel, meine Tante und meine zwei kleinen Cousins kommen heute zu Besuch, und ich hab keinen Bock", nörgelte Luce. Schmunzelnd nickte ich.

Ich hätte gerade auch keine Lust auf kleine Kinder, die die ganze Zeit dein Handy haben wollten, und Omas, Opas, Tanten und Onkel die nichts besseres zu tun hatten, als zu fragen, wie es gerade in der Schule lief.

„Und du Amber?", fragte ich schließlich, da sie noch nichts gesagt hatte.
„Eigentlich nichts. Muss nur noch einen Vortrag für Donnerstag vorbereiten, aber das Verschieb ich vermutlich auf morgen und übermorgen. Und du?",
„Ich werd nachher das erste Mal zu diesem Laden gehen"
„Welchem Laden?", fragte Melli interessiert nach.
„So ein Supermarkt hier in der Nähe. Da werd ich hoffentlich demnächst arbeiten"

Ich hatte es bis jetzt nur Leo, Luce und Amber erzählt.

„Ah, cool. Ich müsste dann auch mal los, wenn ich noch rechtzeitig bei Leo aufkreuzen will" , meinte sie mit einem Blick auf ihre Handyuhr, und verabschiedete sich schnell von uns.

Es war nun schon fünfzehn Uhr dreißig . Sechzehn Uhr dreißig sollte ich dort sein.

„Ich müsste dann auch gehen. Ich hab nicht mehr so viel Zeit", meinte ich und umarmte die beiden zum Abschied.

Mein Blick verharrte ein letztes Mal kurz auf Amber, ehe ich meinen Rucksack schulterte, mich umdrehte und in Richtung zuhause ging.

Heute war wieder mal ein warmer Tag. Es war in New York generell immer wärmer als in Harper's Ferry.

Meine Gedanken wanderten hin und her, und als ich schließlich vor der alten Wohnungstür stand und meinen Schlüssel aus dem Rucksack hervor kramte, waren nicht mal zwanzig Minuten vergangen.

Als ich eintrat, stellte ich glücklicherweise fest, dass mein Vater dabei war seinen Rausch auszuschlafen. Leise huschte ich in mein Zimmer und holte mir ein paar frische Klamotten, ehe ich im Bad verschwand.

Ich wollte nicht gleich den kompletten Penner-Eindruck hinterlassen mit den dreckigen Klamotten, dem Schweiß und den verstrubbelten Haaren.

Also duschte ich mich, zog andere Sachen an und formte aus dem lockigen Vogelnest auf meinem Kopf ein nicht mehr ganz so wirres Durcheinander, wie vorher.

Als ich gehen wollte, war mein Vater gerade dabei aufzuwachen und ich wusste, er würde gleich nach der nächsten Bierflasche greifen, also nahm ich fix meine Brieftasche, meinen Schlüssel und mein Handy, bevor ich die Wohnung verließ.

Ich kannte den Supermarkt inzwischen. Ich war schon einmal hin gegangen, und hab ein paar Sachen gekauft.

Der Weg war nicht weit, man könnte fast sagen um die Ecke, und dennoch war ich erst das zweite Mal hier.

In New York ging vieles in Mitten der riesigen Wolkenkratzern unter...

Es war Punkt sechzehn Uhr dreißig , als ich ankam.

Target Midtown, prangte in großer Schrift über der Tür. Ich vergaß den Namen jedesmal auf's Neue.

Mir wurde gesagt, jemand würde beim Hintereingang auf mich warten, und so war es auch.

Hinter dem Geschäft stand ein blonder Junge mit blauen Augen, etwa so alt wie ich. Er hatte eine schlaksige Statur. In seiner rechten Hand hielt er eine Zigarette. Als er mich erblickte zog er noch ein mal an ihr, ehe er sie achtlos auf den Boden schmiss und zertrampelte.

„Du musst Xavier sein, richtig? Ich bin Jeff", stellte er sich vor, und gab mir die Hand.
„Freut mich", murmelte ich.
„Das sollte es lieber, schließlich sind wir jetzt Kollegen, und werden ab heute jeden Tag zusammenarbeiten", meinte er und machte eine Handbewegung, um ihm zu Folgen.
„Zumindest wenn du dich gut schlägst", fügte er hinzu.

Wir gingen nach Drinnen und das erste was ich sah, war ein Raum mit mehreren Spinden und einem Tisch.

„In dem Spind kannst du während deiner Arbeitszeit deine Sachen aufbewahren. Hier ist der Code. Du kannst ihn gleich mal öffnen", meinte er und drückte mir einen kleinen gelben Zettel in die Hand.

1988, stand auf ihm. Ich drehte die Zahlen am Spind auf 1988, und öffnete den Spind. In ihm befand sich ein schwarzes T-Shirt. Nur die Ärmel und die Schrift war rot.

„Das musst du immer bei der Arbeit tragen, damit man erkennen kann, dass du Mitarbeiter hier bist. Ich habe es jetzt einfach mal in Größe L genommen. Wir haben aber auch noch andere Größen da, falls es nicht passen sollte. Du kannst es ja gleich mal anprobieren", meinte Jeff und ich nickte.

Ich zog mir mein eigenes Shirt über den Kopf und nahm das Target Midtown und  probierte es an. Es war ein wenig eng und spannte ziemlich über der Brust, aber es war okay.

„Geht das so?"
„Ja, ich denke schon"
„Gut, dann zeig ich dir jetzt deinen eigentlichen Arbeitsplatz", meinte er und führte mich durch eine Tür in eine recht große Halle, die durch mehrere Türen mit dem öffentlichen Kaufbereich verbunden waren.

Überall waren haufenweise Lebensmittel in Kisten und Kartons auf übergroßen Regalen verteilt. Viele große Rollbretter und Warenschieber standen herum, und viele Pakete standen am Rande des Lagers.

„In diesem Job ist es unsere Aufgabe, Dinge auszupacken, zu sortieren, einzuräumen und Kunden zu helfen, diese Produkte zu finden. Also nicht all zu schwer. Ich denke du wirst schnell den Dreh raus haben", meinte Jeff und klopfte mir auf die Schulter.

„Und was machen wir jetzt?", fragte ich und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Und jetzt, wo ich dir alles gezeigt habe, werden wir erstmal genau das machen, was ich eben beschrieben habe. Auspacken und sortieren", meinte er und zeigte auf die neue Lieferung, die aus hunderten Paketen bestand.

Sweet Lovin'Where stories live. Discover now