POSTKARTE 5: Kirschkernspucken

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Es ist unglaublich schwer, eine neutrale Miene zu wahren, als ich Yule seinen Kaffeebecher reiche, und würde er mir tatsächlich ins Gesicht sehen, dann würden ihm meine zuckenden Mundwinkel ohne jeden Zweifel auffallen

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Es ist unglaublich schwer, eine neutrale Miene zu wahren, als ich Yule seinen Kaffeebecher reiche, und würde er mir tatsächlich ins Gesicht sehen, dann würden ihm meine zuckenden Mundwinkel ohne jeden Zweifel auffallen. Aber weil er gerade mit dem Navi beschäftigt ist, gebe ich ihm den Kaffee einfach in seine ausgestreckte Hand, ohne dass er den Kopf hebt.

Besser für mich - ich bin eine absolute Niete darin, Freude zu verstecken und gerade freue ich mich ziemlich über meinen kindischen Streich. Vielleicht ein bisschen zu sehr.

Ich verstecke mein Grinsen hinter meinem eigenen Becher und beobachte Yule verschmitzt dabei, wie er zum wohl dritten Mal versucht, mit seinem Finger auf dem Touchscreen zu schreiben.

»Mach du mal, ich glaube, das Auto kann meine Handschrift nicht lesen«, sagt er schliesslich und lässt sich frustriert seufzend in seinen Sitz sinken.

»Kein Wunder«, sage ich und betrachte amüsiert Yules kläglichen Versuch, ein kleines n zu schreiben.

Hätte ich nicht gewusst, was das krakelige Zeichen tatsächlich darstellen soll, hätte ich wohl eher auf ein Boot getippt, als dass ich auf die Idee gekommen wäre, dass es ein Buchstabe sein soll.

»Du hast deinen Lehrer bestimmt regelmässig Nervenzusammenbrüche beschert, wenn du Essays eingereicht hast.«

Beim Gedanken daran, dass mein Englischlehrer, der jeden, dessen Essay nicht genauso ordentlich geschrieben war, wie er es sich vorgestellt hat, beim Anblick von Yules Handschrift wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen wäre, lache ich leise in mich hinein.

»Nicht nur dann.« Yules Mundwinkel verziehen sich zu einem verschlagenen Grinsen.

»Du warst bestimmt immer der neunmalkluge Schüler in der letzten Reihe, zu intelligent, um aufpassen zu müssen und wenn du es doch getan hast, dann mit skeptischer Miene, nur darauf wartend, dass sich eine Gelegenheit ergibt, den Lehrer mit einem spöttischen Kommentar zu korrigieren.«

Ich drehe mich so in meinem Sitz herum, dass ich Yule direkt ansehen kann und stelle meinen Kaffeebecher in die dafür vorgesehene Halterung. »Stimmt's oder hab' ich recht?«

Triumphierend ziehe ich eine Augenbraue nach oben, weil ich sicher bin, es mit meiner Beschreibung ziemlich genau auf den Punkt gebracht zu haben.

Ich selbst hätte zwar auch nicht den Preis der aufmerksamsten oder aktivsten Schülerin gewonnen - um ehrlich zu sein, bin ich mir sogar recht sicher, dass die Lehrer erst einmal nachdenken mussten, welches Gesicht sich hinter dem Namen Phoenix Edwards verbirgt, wenn sie die Mitarbeitsnote gemacht haben (was eigentlich auch schon so ziemlich alles über meine Noten in diesem Bereich sagt) -, aber wenn ich schon nicht aufgepasst habe, dann war ich wenigstens nicht diejenige, die alles, was der Lehrer tat, mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen verurteilt hat.

Ich war viel eher diejenige, die aufgrund regen Zettelchenaustauschs gar nicht mitbekommen hat, was vor sich ging, und deshalb auch keinen Grund hatte, einen Lehrer zu verurteilen.

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