POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke

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Die Sonne steht schon tief am Himmel, als Yule und ich uns dazu aufraffen, weiterzufahren

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Die Sonne steht schon tief am Himmel, als Yule und ich uns dazu aufraffen, weiterzufahren. Es muss später Nachmittag sein.

Wir befinden uns in einem Zustand, der sich wie Honig anfühlt. Beide müde von dem Tag in der Sonne, aber glücklich.

Am liebsten möchte ich meinen Kopf zurücksinken lassen, die Augen schliessen und einschlafen, aber ich blinzle gegen die träge Müdigkeit an. Aus Solidarität zu Yule, der noch fahren muss und nicht schlafen kann. Nicht schlafen sollte.

Vielleicht ist Koffein doch nicht immer eine so schlechte Idee. Ich sollte es mal ausprobieren - ohne Yule etwas davon zu sagen allerdings. Er würde mich bestimmt aufhalten, bevor ich auch nur einen Schluck trinken könnte.

Ich drehe die Musik ein wenig lauter und beobachte, wie der Wald sich immer mehr lichtet, die Temperaturanzeige des Autos von knappen siebzig auf fünfundachtzig Grad Fahrenheit steigt und das Gras am Wegesrand immer trockener wird.

Wir sind auf dem Weg ins Landesinnere. Irgendwohin fernab der Küste, des Meers, der frischen Brise. Während sich die Landschaft um uns herum verändert, frage ich mich, ob wir uns ebenfalls verändert haben. Wie schnell man sich überhaupt verändern kann.

Es ist erst Mittwoch, am Sonntag sind wir losgefahren, und trotzdem fühlt es sich an, als wären Yule und ich schon ewig unterwegs. Tausende Augenblicke und Gespräche, die wir geteilt, unendlich viel Zeit, die wir uns geschenkt haben.

Zeit schenken. Ich mag den Ausdruck. Denn es ist genau das, was wir tun. Zum ersten Mal in unserem Leben tun wir wirklich genau das, was wir wollen, mit dem Menschen, mit dem wir es tun wollen.

Ich habe Yule vielleicht nicht gekannt an dem Abend am Lagerfeuer, trotzdem habe ich gespürt, dass er die Person ist, mit der ich meinen Sommer verbringen möchte.

Vielleicht hab ich gewusst, dass er dadurch irgendwie bedeutungsvoller werden könnte.

Zeit schenken. Yule hat recht. Wir haben uns entschieden, unsere gemeinsame Zeit von einem blossen Augenblick, einem unbedeutenden Wimpernschlag, auf etwas Magisches, viel Wichtigeres auszuweiten. Etwas, das nicht mehr nur bloss ein Strich auf dem Papier ist.

Das hier fühlt sich schon viel zu sehr nach dem ersten Kapitel einer grossartigen Geschichte an, als dass ich meine spontane Entscheidung an diesem Lagerfeuer jemals hätte hinterfragen können.

Das Gras am Strassenrand ist hoch. Wahrscheinlich würde es meine Kniekehlen kitzeln, würde ich jetzt aussteigen und durch die Wiese rennen. Vereinzelt sind violette Punkte auszumachen. Wildblumen. Genau wie sie auch an der Pazifikküste zu sehen waren.

»Ich will niemals Rosen geschenkt bekommen«, sage ich unvermittelt.

Yule wendet den Blick nicht auch nur eine einzige Sekunde von der Strasse ab, als er ungerührt sagt: »Keine Sorge, ich würde niemals auf die Ideen kommen, dir überhaupt Blumen zu schenken. Oder sonst irgendwas.«

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