POSTKARTE 22: Kanten abschleifen

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Yule hat sich an seinen Kanten geschnitten, seinen eigenen, und obwohl ich ihn nicht bluten sehe, weiss ich, dass er's tut

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Yule hat sich an seinen Kanten geschnitten, seinen eigenen, und obwohl ich ihn nicht bluten sehe, weiss ich, dass er's tut.

Ich weiss es instinktiv, als ich die Augen aufschlage und er schon wach neben mir im Bett sitzt. Als würde ich seinen Schmerz an mir selbst spüren können. Er versteht mich und ich verstehe ihn. Ich weiss nicht, wieso das so ist. Aber so ist es eben.

Er hat sich geschnitten und ich weiss es, ich frage mich nur, warum.

Er spricht kaum, während wir uns fürs Frühstück von Sally bereitmachen, und er sagt auch nicht viel, als sie ihn überschwänglich begrüsst, er beschwert sich nicht mal, als ich Sally angrinse, weil sie ihn wieder Cutiepie genannt hat, er verzieht nicht mal eine Miene.

Yules Augen sind matt und trüb und nicht einmal der Kaffee schafft es, ihren Schimmer zum Leben zu erwecken. Nicht die erste Tasse und auch nicht die fünfte.

Und trotzdem trinkt er immer weiter, Tasse um Tasse, als würde er hoffen, dass die sechste, die siebte vielleicht, etwas ändern wird. Er füllt ein Sieb mit Kaffee und Hoffnung und weiss dabei, dass es nichts bringt.

»Was ist los mit dir, Yule?«, frage ich vorsichtig, so vorsichtig, dass Yule nicht zusammenzuckt und so vorsichtig, dass keiner was davon mitbekommt, auch wenn jeder was davon mitbekommt, weil Yule seine Gefühle anzusehen sind, als hätte er sie auf sein Gesicht geschrieben.

Ich berühre ihn nicht, meine Hände liegen auf meinem Schoss, aber es fühlt sich an, als würde ich sachte eine Hand nach ihm ausstrecken.

Er sieht auf. Von seiner sechsten Tasse Kaffee. Seine Augen schimmern noch immer nicht. Als wäre die Tinte in ihnen ausgetrocknet.

Yule zuckt mit den Schultern. »Heute ist mein Nachdenktag, glaub ich. Ich denk zu viel nach und dann bin ich irgendwie ...« Er bricht ab.

... traurig, ergänze ich in Gedanken. Denn so sieht er aus: traurig und leer, irgendwie.

Er meint wohl eher Selbstzweifeltag. Nachdenken tut er sowieso immer viel. Viel zu viel, nach meinem Geschmack. Er sollte sich mal eine Pause gönnen.

Aber heute zweifelt er und ich weiss nicht, warum und woran.

»Yule?«

»Hm?«

»Stell dir vor, ich wäre dein Tagebuch. Du kannst mir alles anvertrauen. Und ich bewahre es auf - so lange, bis du die Seiten ausreisst. Wenn du in ein Tagebuch schreibst, dann bist du ehrlich und ich weiss, es ist gerade nicht dunkel, aber du kannst ehrlich sein. Mit mir immer. Das weisst du, oder? Du kannst mir alles erzählen und vielleicht sehe ich nicht aus, als könnte ich lange stillsitzen, aber ich bin eigentlich eine ziemlich gute Zuhörerin, weisst du?«

»Das weiss ich doch schon längst, Phoenix.« Er zieht einen Mundwinkel nach oben und es ist fast ein Lächeln, das sich auf seinem Gesicht abzeichnet. »Ich weiss nur nicht, ob ich schon einen Stift gefunden habe, um ins Tagebuch zu schreiben.«

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