POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht

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Am nächsten Morgen fahren wir so früh los, dass wir Bend dabei zusehen können, wie es aus dem Schlaf erwacht

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Am nächsten Morgen fahren wir so früh los, dass wir Bend dabei zusehen können, wie es aus dem Schlaf erwacht. Das Morgenlicht schimmert golden, während es zwischen den Zweigen der Bäume hindurch blitzt, und malt dabei sanfte Muster auf die Strassen.

In Yules Augen liegt noch der Schlaf und ich weiss, in meinen ist die Müdigkeit zu sehen, trotzdem sind wir irgendwie hellwach, auch wenn das wärmende Gefühl der Decke noch so frisch auf meiner Haut ist, dass ich am liebsten wieder zurück ins Bett möchte.

Yules Becher ist gefüllt mit Kaffee, meiner mit Froot Loops, und in meiner Hand halte ich einen Strohhalm. Yule sagt schon gar nichts mehr dazu. Grundsätzlich ist er heute Morgen schweigsam. So schweigsam wie immer eigentlich, und ich bin es längst gewohnt.

Yule spricht jedes seiner Worte mit Bedacht aus und wenn es nichts zu sagen gibt, dann sagt er einfach nichts. So anders als ich, denn ich habe bisher immer gegen das Schweigen angekämpft und vielleicht habe ich die Stille gar nicht bewusst gefüllt, vielleicht war da einfach immer dieser Drang in mir, etwas sagen zu müssen, dabei habe ich wohl einfach nie verstanden, dass die Stille Platz zum Wachsen gibt.

Yule hängt seinen Gedanken nach und statt mich zu fragen, worüber er gerade nachdenkt, lehne ich einfach nur den Kopf gegen die Scheibe des Autos und folge mit meinen Blicken dem Verlauf der Strasse, der wir entlang fahren, denn ich habe selbst einige Dinge, über die ich nachdenke.

Denn während wir jetzt schweigen, waren wir gestern ehrlich, und weil wir ehrlich waren, sind da jetzt neue Worte in meinem Kopf, die sich noch nicht ganz zu einem vollständigen Satz zusammengefügt haben. Sie wirbeln nur herum und während ich über gestern und vorgestern und all die Tage zuvor, die ich mit Yule verbracht habe, nachdenke, schiebe ich sie hin und her und versuche, sie zu einem Text zusammenzufügen, den ich lesen kann.

Und wir schweigen beide weiter, Yule schweigt und ich schweige, und das Einzige, was er in zwei Stunden Fahrt sagt, ist »Danke, dass du gestern mit mir wach geblieben bist« und ich weiss, es war genau der richtige Abend, um die Sterne mit Yule zu beobachten und seinen Gedanken Gesellschaft zu leisten.

Vielleicht hätte er sich sonst gestern selbst an seinen Kanten geschnitten.

🌲

Irgendwann lichtet sich der Wald und irgendwann lichtet sich das Schweigen, es ist bereit, jetzt durchbrochen zu werden. Der Platz im Auto kann mit Worten gefüllt werden und es fühlt sich an, als würden wir grade aufwachen. Obwohl wir unser Bett schon vor Stunden verlassen haben.

Und weil ich grade eben noch darüber nachgedacht habe, was ich eigentlich diesen Sommer getan hätte, wäre ich nicht meinem griesgrämigen Kaffeetrinker begegnet, und zu dem Schluss gekommen bin, dass ich meine Zeit wohl mit irgendeinem Sommerjob gefüllt hätte und wahrscheinlich dann die Blumen, die die Strassenlaternen in Ashtown zieren, gegossen hätte, frage ich Yule jetzt: »Womit hast du dein Geld verdient?«

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