POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten

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Als wir nach Hause fahren an diesem Abend, wandern meine Gedanken nicht an ferne Orte, denn sie haben sich auf einer Bank hingesetzt und ich glaube, Yules Gedanken leisten ihnen Gesellschaft

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Als wir nach Hause fahren an diesem Abend, wandern meine Gedanken nicht an ferne Orte, denn sie haben sich auf einer Bank hingesetzt und ich glaube, Yules Gedanken leisten ihnen Gesellschaft. Weil es hier, im Auto, genau in diesem Augenblick, eben doch am schönsten ist.

Yule muss diese Geschichte von unserem Sommer unbedingt aufschreiben und es ist mir sogar egal, ob ich darin die Protagonistin bin.

Weil ich sie für immer lesen will. Weil ich mich für immer erinnern will, für immer das Gefühl spüren will und für immer daran denken möchte, wie schön es ist, einfach mal die Gedanken auszuschalten, im Auto zu sitzen und den Blick auf die Gegenwart zu richten, aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft bewundern, statt sich Gedanken darüber zu machen, wie es im nächsten Ort wohl aussehen wird.

Und weil ich mich für immer daran erinnern will, wie Yule und ich zum ersten Mal Baby-Karotten und Sprühkäse gekauft haben. Weil ich Fridolin oder dieses eine Mal, als ich verstohlen mit dem Eis für unsere Kühlbox über den Gang gehuscht bin, niemals vergessen möchte.

Ich will diese Geschichte für immer lesen, für immer fühlen, niemals vergessen. Und ganz besonders will ich an meiner Lieblingsstelle eine Seite einknicken können.

Und eigentlich müsste ich jede Seite einknicken, weil jede Stelle meine Lieblingsstelle ist, jeder Tag mein Lieblingstag und jeder Sonnenuntergang mein Lieblingssonnenuntergang.

»Was hältst du von eingeknickten Seiten in Büchern, Yule?«

»Bücher müssen gelesen aussehen«, sagt er. »Es gibt ihnen einen Charakter. Und wenn dich eine Stelle so sehr berührt, dass dein Herz schwer wird und du weisst, du willst diesen Satz niemals vergessen, wenn du ihn am liebsten überall hinschreiben willst ... warum sollte man das dann nicht sehen?« Er zuckt mit den Schultern.

»Ein Buch zu schreiben, bei dem Leute Seiten einknicken, weil ein Satz, den ich geschrieben habe, sie so sehr berührt hat, dass sie das Gefühl haben, ihn markieren zu müssen - das ist mein Traum. Das schönste Kompliment.«

Er sagt das so leichthin, aber ich weiss, dass dieser Wunsch tief aus seinem Herzen kommt.

Ich habe Yule mit verwischter Tinte und einer eingeknickten Seite verglichen und in diesem Moment weiss ich, dass er genau das ist.

Yule ist eine eingeknickte Seite.

Yule ist die Stelle in einem Buch, die ich mir markieren will, die mich Dinge fühlen lässt und die mein Herz schwer macht.

Die Stelle, die ich mir immer ins Notizbuch kritzeln will und die ich in mein Herz schliessen und niemals wieder loslassen möchte. Die ich für immer lesen will.

Die Stelle, die man sich aufschreibt, anstreicht, einprägt.

🌲

Ich sitze auf der Fensterbank und versuche, einen letzten Blick auf die beiden Schornsteine in der Dämmerung zu erhaschen, und Yule sitzt auf dem Bett und liest in seinem Buch. Noch immer The Picture of Dorian Gray. In den letzten Tagen ist er kaum zum Lesen gekommen und ich glaube, das könnte an mir liegen.

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