Prolog

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Polizeisirenen heulten. Blaues und rotes Licht erhellte die Nacht und warf Schatten an die schmutzigen grauen Hausfassaden. Die Fenster blieben dunkel – keiner stand auf, um zu sehen, wohin die Polizisten fuhren; keiner war mehr neugierig. In dieser Gegend waren zu oft Polizisten unterwegs. Manchmal, um einen Drogendealer zu verhaften, manchmal, um eine Schlägerei zu beenden oder eine tote Prostituierte in irgendeiner Gasse zu finden. Und so etwas würde es dieses Mal wieder sein. So wie immer.

Lieutenant Scott warf dem Captain, der zu seiner Rechten auf dem Beifahrersitz saß, einen raschen Blick zu. Sein Vorgesetzter schien ebenfalls mit einem Standardeinsatz zu rechnen, denn abgesehen von einer leichten Verstimmung darüber, um diese Uhrzeit schon aus dem Bett geholt zu werden, sah er ziemlich entspannt aus.

„Lieutenant, Augen auf die Straße!", mahnte der Captain und sofort wandte Scott seinen Blick von ihm ab und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. „Ich brauche heute nicht auch noch einen Autounfall." Dabei waren die Straßen relativ leer, denn um halb Sechs in der Früh, an einem Wochentag, war selbst an diesem Hotspot des Nachtlebens von LA kaum noch jemand unterwegs, da sowohl die Clubs als auch die Bordelle schon geschlossen hatten. Und viel mehr gab es hier nicht.

Außerdem hatten sie ihr Ziel bereits erreicht. Scott hielt den Wagen an und sie beide stiegen aus. Der Captain ging zu dem Mann, der vor seiner Haustür schon auf sie wartete. „Sie haben angerufen?", fragte er.

Der Mann nickte und wies mit dem Kinn zu dem Club auf der anderen Seite der Straße. „Von da kam ein Schuss. Vor einer Viertelstunde oder so."

„Nur ein Schuss?", hakte der Captain nach. „Danach haben Sie nichts mehr gehört?"

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein", gähnte er. „Danach war wieder Ruhe." Er rieb sich die müden Augen und machte zwei Schritte zurück in Richtung seines Hauses. „Brauchen Sie mich noch oder kann ich mich wieder hinlegen? Ich hab bis vor zwei Stunden noch gearbeitet und bis jetzt hundemüde." Scott unterdrückte ein Schnauben. Er war auch müde und trotzdem war er hier, um das Gesetz zu hüten. Dieser Typ könnte wenigstens so viel Solidarität zeigen, hier auf sie zu warten, bis sie mit der Leiche herauskamen, und wenn nötig den Sergeants, die mit dem zweiten Wagen gekommen waren, noch ein paar Fragen zu beantworten.

Aber der Captain hatte offensichtlich keine Lust auf Diskussionen und scheuchte den Mann mit einer genervten Handbewegung weg. „Ja, gehen Sie wieder schlafen." Leise grummelnd machte er sich auf den Weg zum Club auf der anderen Straßenseite. „Bis vor zwei Stunden gearbeitet, toll. Ich werde jetzt gleich noch mindestens zwei Stunden arbeiten!"

Scott ging schneller, um mit ihm Schritt zu halten. „Gehen wir davon aus, dass der Täter noch drin ist?", fragte er und holte zur Sicherheit schon einmal seine Waffe aus dem Holster.

Der Captain zuckte mit den Achseln, immer noch hauptsächlich genervt, aber auch er hielt seine Dienstwaffe in der Hand. „Wir sind immer auf alles gefasst, Scott, das wissen Sie doch." Die Tür des Clubs war verschlossen, doch einer der Sergeants brach sie auf, und zu viert betraten sie das dunkle Gebäude.

Scott tastete neben dem Türrahmen nach einem Lichtschalter; nach ein paar Sekunden wurde der Club in ein rot-violettes Licht getaucht.

„Waffe bereithalten", erinnerte der Captain noch einmal alle. „Immer erst den Raum sichern." Dann gab er das Zeichen, sich zu verteilen, um nach Opfer und Täter zu suchen.

Schnell stellte sich heraus, dass der Clubraum verlassen war. Der Captain ging zusammen mit einem der Sergeants hinunter in den Keller; der zweite Sergeant begleitete Scott die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Wie es aussah, befand sich dort oben eine Wohnung, vermutlich die Wohnung des Clubbesitzers. Und auch hier war es überwiegend dunkel. Nur unter einem Türspalt drang Licht hervor. Diese Tür stieß Scott nach einem tiefen Luftholen auf, die Waffe im Anschlag. „Polizei! Hände hoch!" Immer erst rufen, dann die Situation erfassen. Das hatte der Captain ihm gesagt.

Deshalb erfasste er erst ein paar Augenblicke später die Lage.

Es hatte einen Schuss gegeben und es gab auch einen Toten, dessen offene Augen in Richtung der Tür gewandt waren. Er lag auf dem Boden des Schlafzimmers, vor einem großen Bett, in einer tiefroten Blutlache. Und neben ihm kniete eine junge Frau, wahrscheinlich nicht einmal zwanzig, mit fahlen blonden Haaren und nur in Unterwäsche. Ihre verweinten Augen waren gerötet; die schwarzen Tränenspuren auf ihren Wangen und der dunkelrote, verschmierte Lippenstift ließen ihr bleiches Gesicht noch geisterhafter wirken. In ihren vor Schluchzern erzitternden Händen lag ein Revolver.

„Waffe fallen lassen!"


„Und sie hat keine Schwierigkeiten gemacht?" Der Captain trat neben Lieutenant Scott, um einen Mann von der Spurensicherung, die mittlerweile auch eingetroffen war, vorbeizulassen. Er warf einen kurzen Blick auf die Leiche, die gerade von unterschiedlichen Seiten fotografiert wurde.

Scott schüttelte den Kopf. Auch sein Blick ruhte auf dem Toten. „Nein, sie hat keine Gegenwehr geleistet." Unbewusst ballte sich seine Hand zur Faust, während er die Leiche betrachtete. Die Stelle, an der weniger Blut war, weil dort die junge Frau gehockt hatte. Halb nackt. „Ich schätze, sie stand einfach ziemlich unter Schock."

Der Captain seufzte und nickte langsam. „Ja, verständlich." Er besah sich noch einmal den Tatort, obwohl das Ganze relativ eindeutig war. „Sieht nach Notwehr gegen eine drohende Vergewaltigung aus", meinte er, traurig – denn so etwas passierte hier viel zu oft. Die Vergewaltigung, nicht die tödlich endende Notwehr. Meistens starben eher die jungen Frauen.

Doch jetzt lag da dieser Mann, in diesem Schlafzimmer, mit bereits geöffnetem Gürtel und einem blutigen Loch in der Brust. Er war selbst noch sehr jung, höchstens ein oder zwei Jahre älter als die Frau, an der er sich beinahe vergangen hätte. Jung und gutaussehend. Hatte so jemand nicht etwas Besseres mit seinem Leben vor als die Leitung eines fragwürdigen Clubs? Als Menschenhandel?

Es war nicht sonderlich schwer, zu erraten, wer in dem von außen abzuriegelnden Kellerraum mit den dünnen Matratzen auf dem Boden eingesperrt wurde. Verschleppte Frauen. Das war hier in Kalifornien ein weit verbreitetes Problem und Scott hatte schon mehrere Menschenhändler selbst verhaftet. Er sollte eigentlich daran gewöhnt sein. Aber jeder neue Täter machte ihn nur noch wütender.

Er verstand diese Menschen einfach nicht, begriff nicht, wie jemand einem anderen Menschen so etwas antun konnte, nur um Profit zu machen. Und er wollte diese Leute auch gar nicht verstehen. Er wollte sie nur hinter Gittern sehen. Oder tot – das war auch eine Option.

„Wissen wir seinen Namen?", riss der Captain Scott aus seinen Gedanken.

Der Lieutenant räusperte sich, schüttelte seine geballte Faust aus und zog seinen Block hervor. „Ethan Carter", las er von seinen Notizen ab. „Zumindest steht das auf dem Ausweis in seiner Jackentasche. Aber der Ausweis scheint tatsächlich nicht gefälscht zu sein."

Der Captain nickte. „Verwandte, die wir informieren müssen?"

„Eine Tante in Houston", antwortete Scott mit einem weiteren Blick auf seine Notizen. „Sein nächster Verwandter lebt aber auch hier in LA. Sein Name ist Lucas Carter. Er ist sein Bruder."

Becoming HimWhere stories live. Discover now