Kapitel 8

401 31 2
                                    

Ich wirbelte herum. „Ich..." Ich brach ab, einerseits, weil ich sowieso nicht wusste, was ich sagen sollte. Andererseits, weil ich ein bisschen geschockt war.

Vor mir stand ein Riese. Er war um die zwei Köpfe größer als ich und ich war auch nicht unbedingt klein. Den schmalen Türrahmen, der in Ethans Wohnung führte, füllte er nach oben hin vollständig aus. Und zu den Seiten hin auf Höhe seiner breiten Schultern auch beinahe. Der Mann war ein Schrank. Ich starrte an ihm herab. Eine Schusswaffe trug er nicht. Aber mit diesen großen, sehr kräftig wirkenden Händen brauchte er sicher auch keine. Vermutlich könnte er mir problemlos das Genick brechen.

Glücklicherweise schien er auf meiner Seite zu sein. Beziehungsweise auf Ethans, denn er verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Alles okay bei dir?", fragte er. War da wirklich eine Spur von Besorgnis in seiner Stimme oder redete ich mir das nur ein, um weniger Angst vor ihm zu haben?

Er wird dir nichts tun, beschwichtigte mich meine innere Stimme. Du bist jetzt Ethan. Und du hast einen Revolver. Unbewusst tastete ich mit der Hand nach der Schusswaffe, die in einem Holster an meinem Gürtel steckte. Ein ungewohntes Gefühl, aber Ethan hatte sie stets mit sich herumgetragen, deshalb musste ich es auch tun. Ich würde sie nicht benutzen, aber ich musste sie tragen. Und mich endlich wie Ethan verhalten.

„Ja, klar", erwiderte ich, möglichst lässig, und nahm die Hand von der Waffe.

Der Mann folgte der Bewegung mit den Augen. Wer war er? Langsam kamen die Namen wieder zurück, die ich mir einzuprägen versucht hatte. John, Ryan, Felix... Nein, von denen war es keiner. Zu diesen Namen hatte es Fotos gegeben, zu dem Mann vor mir nicht, ihn hatte ich nie gesehen. Verdammt, wer war er?

Weil ich ihn das schlecht einfach so fragen konnte, stellte ich erst einmal eine andere Frage: „Was gibt's?" Das war harmlos und verschaffte mir Zeit, um mich zu beruhigen und besser zu konzentrieren, damit ich herausfinden konnte, wer dieser Typ war. Offensichtlich war er Ethan nicht feindselig gesinnt und Ethan ihm auch nicht, denn er hatte sich besorgt angehört und war auch nicht nervös geworden, als ich den Revolver berührt hatte. Ethan musste ihm in irgendeiner Weise vertraut haben, denn sonst würde er sich wohl nicht trauen, ungefragt diese Wohnung zu betreten – denn ich konnte mir vorstellen, dass Ethan einen Fremden, der in seine Wohnung platzte, mit der Waffe begrüßt hätte. Also war dieser Mann wohl ein Freund von Ethan. Laut Agent Wests Liste war mein Bruder nur mit ein paar Bordellbesitzern und einem seiner Türsteher irgendwie befreundet gewesen.

Dem Türsteher/Buchhalter. Matt war sein Name.

Der Typ vor mir könnte zumindest von der Statur her sehr gut als Türsteher arbeiten.

„Das Treffen mit der Echse", erklärte der Mann, der vielleicht Matt hieß, etwas irritiert. „Hast du das etwa vergessen? Wir wollten eigentlich um halb Fünf fahren."

Die Echse? Welche... Als mir auffiel, dass ich die Stirn gerunzelt hatte, versuchte ich schnell, sie wieder zu glätten. Ich konnte gleich darüber nachdenken, was er damit meinte, aber erst einmal musste ich ihm antworten. Irgendetwas. „Nein, natürlich nicht", erwiderte ich und versuchte mich an einem genervten Tonfall. Ethan hätte sich sicher nicht für eine Verspätung entschuldigt und auch nicht zugegeben, dass er einen Termin vergessen hatte. Einen Termin mit einer Echse. Hm. Halb Fünf, hatte er gesagt. Schätzungsweise war es jetzt 16.49 Uhr. „Wir sollten gehen." Dass das jetzt genau die Worte waren, die Ethan gewählt hatte, um aufzubrechen, bezweifelte ich, aber es war zu spät, sie waren heraus.

Der Mann, von dem ich immer noch nicht sicher wusste, ob er Matt war oder nicht, schien sich aber zum Glück nicht darüber zu wundern, denn er nickte und schob sich aus der Tür hinaus auf den Treppenabgang. Während ich ihm folgte, wiederholte ich noch einmal stumm mein Mantra: Sei ein Gangsterboss. Das durfte ich nicht vergessen, vor allem jetzt nicht. Das hier war meine erste Gelegenheit, aufzufliegen. Ich sollte sie wohl besser nicht ergreifen.

Aber um glaubwürdig zu wirken, musste ich endlich wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Wie sollte ich den Mann, der vor mir die Treppe hinunterging, unauffällig dazu bringen, mir seinen Namen zu verraten? Und von was für einer Echse hatte er gesprochen? Wen würden wir gleich besuchen? Echse. Das war sicher ein Name für einen Menschen, denn nur mit einem solchen ergab ein Treffen Sinn. Kein richtiger Name, ein Deckname. Ich vergewisserte mich, dass der Mann mir noch immer seinen breiten Rücken zuwandte, zog mein Handy aus der Hosentasche und warf einen raschen Blick in meine Kontakte. Da! Lagarto. Spanisch für Eidechse. Der Chatverlauf ließ vermuten, dass er einer der Schmuggler war, mit denen Ethan zusammengearbeitet hatte. Einer der Menschenschmuggler.

Der Mann hatte die Hintertür des Clubs erreicht und hielt sie für mich auf, mit leicht fragend gehobenen Augenbrauen.

Ich wusste nicht, ob Ethan darauf etwas sagen würde, deshalb entschied ich mich, so zu tun, als hätte ich seinen Blick nicht bemerkt, und steckte mein Handy wieder weg – aber nicht zu hastig, das wäre nur verdächtig gewesen. „Wir haben es doch eilig, oder nicht?" Arroganz und Ungeduld kamen doch bestimmt gangstermäßig rüber. Oder?

Der Mann ging zu einem klischeehaft schwarz glänzenden Wagen mit getönten Scheiben und öffnete die Beifahrertür für mich. „Danke", sagte ich aus Gewohnheit und biss mir auf die Lippe. Ein Gangsterboss bedankte sich nicht bei seinen Angestellten für eine aufgehaltene Autotür. Was bedeutete, dass ich das ab jetzt auch nicht mehr tun durfte. Ich stieg ein, bevor der Mann in meinem Gesicht sehen konnte, wie sehr ich mich gerade über mich selbst ärgerte. Ruhig und konzentriert bleiben, Carter. Das ist jetzt das Wichtigste. Ich gab mir ja Mühe. Aber vielleicht reichte das nicht. Vielleicht war ich zu inkompetent. Vielleicht würde ich mich gleich verraten und dann...

Ich nahm einen tiefen Atemzug. Es war zu spät. Ich war hier und der Mann stieg gerade in den Wagen und startete den Motor. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Wo warst du?", fragte mich der Mann, während er losfuhr. Wohin auch immer. Gut, dass er das Fahren übernahm – wenn er erwartet hätte, dass ich mich ans Steuer setzte, hätte ich mich gleich mal richtig verdächtig machen und rausreden müssen. „Ich konnte dich den ganzen Tag nicht erreichen."

Nur zwei Personen hatten heute versucht, Ethan zu erreichen. Eine Stripperin, die sich für heute Abend krankgemeldet hatte. Und Matt, der dreimal angerufen und zehn Whats-App-Nachrichten geschickt hatte. Jetzt hatte ich also Gewissheit – das hier war Matt. Mein erster Kontakt war gleich der schwierigste, derjenige, der meinen Bruder wohl noch am besten gekannt hatte. Natürlich musste es so sein.

Als er mich über den Rückspiegel fragend ansah, fiel mir auf, dass ich ihm noch eine Antwort schuldete. „Ja, ich war heute die ganze Zeit bei der Polizei, musste da noch was klären." Erst nachdem der Satz schon raus war, bemerkte ich, dass Ethan vielleicht eher Bullen sagte. In Filmen zumindest war das ein recht charakteristisches Merkmal von Kriminellen. Aber entsprach das der Wirklichkeit? Das konnte ich nicht beurteilen, weil ich schließlich keine realen Kriminellen kannte. Na, das wird sich jetzt ja ändern. Vielleicht hatte sich das sogar schon geändert. Es hatte zwar so ausgesehen, als ob sich Matt hauptsächlich um Ethans legale Geschäfte kümmerte. Aber jetzt fuhr er mich zu diesem Lagarto. Der auf jeden Fall kriminell war und bereits seit einer Weile vom FBI beobachtet wurde.

Matt grinste. „Eine scharfe Polizistin oder was?"

Ich brauchte eine Weile, um den Witz zu verstehen, weil ich so nervös war. Dann zwang ich mich zu einem kurzen Lachen. Ethan würde doch über diesen Witz lachen, oder? War das überhaupt ein Witz gewesen? Schnell versuchte ich, meine aufsteigende, mittelschwere Panik zu unterdrücken. „Nein", erwiderte ich in einem möglichst nichtssagenden Tonfall. „Aber die Kleine ist tot. Emily." Auch ihr Name stand auf der Liste von Agent West. Für den Fall, dass sich überhaupt noch irgendjemand an ihren Namen erinnerte und ihn ins Gespräch brachte.

„Oh", meinte Matt. Das Grinsen war verschwunden. Für einen eventuell Kriminellen wirkte er relativ betroffen von dieser Neuigkeit. Seine Finger verkrampften sich um das Lenkrad. „Ja, ich habe von dem Schuss gehört." Er fragte nicht, was passiert war. Wie sie gestorben war, wer geschossen hatte, sie oder Ethan, sie oder ich. Vielleicht war er daran gewöhnt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Vielleicht hatte Ethan ihm das beigebracht.

„Na ja, die Echse wird sie dir bestimmt ersetzen können." Matt hielt den Wagen an. „So, wir sind da."

Becoming HimWhere stories live. Discover now