Kapitel 22

336 23 1
                                    

Morris war tot. Und ich hatte ihn umgebracht. Ich hatte ihn getötet.

Nein, hast du nicht. Doch. Ja, ich wusste nicht mehr, wer von uns beiden an den Abzug gekommen war, wer ihn betätigt hatte. Diese ganze Rangelei um die Pistole war ein einziges Durcheinander in meinem Kopf und wenn ich versuchte, meine Erinnerungen zu entwirren und herauszufinden, wer letztlich ganz konkret für den Schuss verantwortlich war, dann fiel mein Blick nur immer wieder auf das Blut am Boden, auf Morris, auf seine Leiche... und mein halbwegs klares Denken setzte komplett aus.

Das Einzige, was ich denken konnte, war, dass ich schuld war. Selbst wenn ich nicht derjenige gewesen war, der abgedrückt hatte, selbst wenn es alles aus Versehen passiert war, trug ich doch zumindest eine Mitschuld an Morris' Tod. Meinetwegen lag er jetzt vor mir auf dem Boden und würde nie mehr... Er würde nie mehr aufstehen, nie mehr sprechen. Er würde nie mehr zu einer Familie zurückkehren, von der ich nicht einmal wusste, ob er sie hatte. Und er wird nie wieder das Leben junger verschleppter Frauen zerstören. Nein, dafür hatte ich gesorgt. Indem ich sein Leben zerstört, indem ich ihm sein Leben genommen hatte. Wenn du das nicht getan hättest, wärst du jetzt oder spätestens in ein paar Stunden tot, Lucas.

Ich schüttelte den Kopf. Nein. Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben. Es musste einen anderen Weg gegeben haben! Es konnte nicht sein, dass Morris hatte sterben müssen, nur damit ich am Leben blieb. Das wollte ich nicht akzeptieren. Verdammt, das würde ich nicht akzeptieren!

„Carter." Ich fuhr erschrocken zusammen, als mich die kühle Stimme daran erinnerte, dass jemand den Club betreten hatte. Langsam sah ich auf und blickte in Pauls ernstes Gesicht. Er sah zuerst noch einmal auf Morris' Leiche herab, dann richtete er seinen Blick wieder auf mich. Sein Schock, falls er überhaupt vorhanden war, hielt sich in Grenzen. Offensichtlich war das nicht die erste Leiche, die er sah. „Was ist hier passiert?" Ich sah das Misstrauen mir gegenüber, das sich in seinen Augen eingenistet hatte seit ich ihn davon abgehalten hatte, das Mädchen aus Mexiko ein zweites Mal zu schlagen. „Warum hast du ihn erschossen?"

Weil er herausgefunden hat, dass ich ein Spitzel bin, und mich deswegen tot sehen wollte. Das war keine Antwort, die ich Paul geben konnte. Für ihn war ich immer noch Ethan – zwar nicht zweifelsfrei, aber zumindest war ihm keine bessere Option bekannt. Ich ging nicht davon aus, dass Morris ihm oder sonst jemandem gesagt hatte, was er herausgefunden hatte. Sonst wäre er erstens nicht allein gekommen und hätte zweitens nicht noch den Boss angerufen, um ihn zu informieren. Nein, das hier war ein Alleingang gewesen, mit dem Morris wahrscheinlich dem Boss hatte beweisen wollen, wie vertrauenswürdig und heldenhaft er war. Und jetzt lag er tot in seinem eigenen Blut auf dem Boden.

Ich blinzelte, als könnte ich damit diesen Gedanken aus meinem Kopf verscheuchen. Das half mir jetzt nicht weiter, ich musste mir eine gute Erklärung für Morris' Tod ausdenken. Und zwar schnell.

Ich schluckte und merkte, dass ich immer noch die Pistole in der Hand hielt. Beinahe hätte ich sie einfach fallen gelassen und wäre wieder zur Salzsäule erstarrt. Doch das konnte ich mir nicht erlauben, denn ich war jetzt wieder Ethan. Ich war jetzt wieder ein Gangsterboss und als solcher durfte ich nicht schockiert darüber sein, jemanden erschossen zu haben. Ich musste die Fassung bewahren, zumindest solange bis Paul wieder verschwunden war.

Aber vor allem musste ich ihm jetzt endlich eine gute Erklärung liefern: „Er hat behauptet, ich hätte ihn verarscht." Was irgendwie stimmte, aber ich wollte Pauls Assoziationen eher in die Richtung lenken, dass ich ihm bei irgendeinem Geschäft etwas vorenthalten und ihn in einer solchen Hinsicht getäuscht hatte, deshalb fügte ich hinzu: „Er meinte, dass ich ihm deswegen Geld schulde." Ich versuchte es absichtlich mit kurzen Sätzen, da ich mir nicht sicher war, ob ich meiner Stimme in meinem momentanen Zustand Hypotaxen zutrauen konnte. „Ich habe ihm natürlich kein Geld gegeben." Mühsam zwang ich mich, Paul anzusehen, meinen Blick auf sein ernstes Gesicht und seine argwöhnischen Augen zu konzentrieren – alles, um nur nicht zu Morris zu schauen. Sobald ich das tat, würde ich wieder komplett den Fokus verlieren, und das konnte ich mir im Augenblick nicht leisten. „Dann hat er seine Pistole auf mich gerichtet. Ich habe sie ihm abgenommen und..." Es war nicht gut, an dieser Stelle zu stocken, es war überhaupt nicht gut. Aber ich konnte nicht anders, ich musste erst nach einem Ausdruck suchen, den ich aussprechen konnte ohne zu brechen. Mir war bereits ein wenig übel. „Und ihn ausgeschaltet." So ein neutraler Begriff für so eine schreckliche Tat. Mir war trotzdem schlecht. Ich wusste nicht, wie lange ich noch vorgeben konnte, halbwegs cool zu bleiben. Du musst durchhalten, Lucas. Sei ein Gangsterboss.

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt