Kapitel 12

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Ich schreckte aus dem Schlaf, als in meiner rechten Hosentasche etwas vibrierte.

Verwirrt sah ich mich um und griff mir an den Kopf, als ich merkte, dass er schmerzte. Er tat nur auf diese Weise weh, wenn ich Alkohol getrunken hatte. Was... Oh. Sobald ich realisiert hatte, wo ich war, wusste ich wieder alles. Ethans Tod, der Auftrag von Agent West, meine Begegnungen mit den Geschäftspartnern meines Bruders, erst mit Lagarto, dann mit Nolan und Young. Die Unterhaltung mit der Barkeeperin. Bei dem Gedanken an Letzteres verzog ich das Gesicht. Die peinliche Unterhaltung.

Irgendwann, nachdem sie gegangen war, hatte mich wohl die Müdigkeit übermannt und ich war hier auf dieser Sitzbank in Ethans Club eingeschlafen. Das Licht war auch noch an – ich war wohl nicht mehr dazu gekommen, es auszuschalten.

Wie lange hatte ich geschlafen? Ich griff in meine Hosentasche, um die Uhrzeit von Ethans Handy abzulesen, da realisierte ich, dass das Handy immer noch vibrierte. Ein eingehender Anruf von einer der Stripperinnen. Lacey. Die Rothaarige, mit der Young letzte Nacht weggegangen war. Ich war versucht, sie wegzudrücken, denn eigentlich wollte ich doch aussteigen, eigentlich hatte ich mit all dem hier nichts zu tun. Aber etwas hielt mich davon ab. Das Gefühl, dass sie mich sicher nicht ohne Grund anrief, dass es wichtig war. Denn sonst könnte sie mir wohl auch einfach eine Textnachricht schicken. Also nahm ich ab: „Hallo? L... Ethan Carter?"

„Hier, hier ist Lacey." Ich runzelte die Stirn. Ihre Stimme klang seltsam. Belegt. Hatte sie geweint? Weswegen?

„Was ist los?", fragte ich. Es war egal, dass das eigentlich nicht mein Problem war. Es war egal, dass ich sie eigentlich nicht kannte. Wenn sie geweint hatte und wenn ihre Stimme so zitterte, dann musste ich mir wenigstens anhören, was los war. Auch wenn ich letztlich vermutlich doch nichts dagegen tun konnte. „Ist was passiert?"

„Ich... Nein... Ja, es..." Sie brach ab und ich gab ihr Zeit, um sich zu sammeln. „Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich... heute nicht zur Arbeit kommen kann." Sie zögerte kurz. „Und wahrscheinlich für eine... ganze Weile nicht." Es klang, als schniefte sie, als wischte sie sich mit der Hand etwas aus dem Gesicht. Tränen?

„Was ist denn passiert?", fragte ich. „Lacey, geht es dir gut?"

„Ich..." Sie stockte erneut. „Ich weiß nicht." Ihre Stimme zitterte nun stärker. „Es, es tut mir leid, aber ich, ich kann erst einmal eine, eine Weile nicht kommen."

„Ist letzte Nacht etwas Schlimmes passiert?", fragte ich und ihr Schweigen war auch eine Antwort. Ja, etwas war passiert, in den letzten paar Stunden, denn jetzt war erst elf Uhr und im Club schien noch alles in Ordnung gewesen zu sein. Also war, was auch immer passiert war, in den wenigen Stunden geschehen, seit sie den Club verlassen hatte.

Seit sie den Club zusammen mit Ryan Young verlassen hatte. Mit einer sehr offensichtlichen Intention. Eine Intention, die er ganz sicher hatte. Aber sie hatte doch auch so ausgesehen, als wollte sie zu ihm ins Bett steigen. Oder zumindest hatte sie ihn nicht abgewiesen. Okay, um ehrlich zu sein hatte ich ihr Gesicht nicht richtig gesehen, weil ihre roten Haare es zum größten Teil verdeckt hatten. Und bevor sie sich an seinen Arm geklammert hatte, hatte sie ein bisschen geschwankt. Nun, vielleicht vertrug sie noch weniger Alkohol als ich und ein leichter Verlust ihres Gleichgewichts war die Folge des einen Schlucks von Youngs Drink gewesen, den sie genommen hatte.

Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit Young zu tun. Aber womit dann? Familie? Ein fester Freund, der Schluss machte? Irgendetwas? Es gab so viele Möglichkeiten.

Ja, und Young ist eine davon. Das stimmte. Was konnte es schon schaden, nachzufragen: „Hat es etwas mit Ryan Young zu tun? Lacey?" Am anderen Ende der Leitung war ein zuerst lautes und dann ersticktes Schluchzen zu hören. Ich schloss die Augen. Es hatte etwas mit ihm zu tun. „Was hat er getan?"

Lacey schluchzte erneut. „Ich weiß es nicht", flüsterte sie, so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. „Aber ich glaube, dass... dass da K.o.-Tropfen drin waren in... in dem Drink." Ich fluchte leise. „Ich, ich kann mich aber nicht, nicht mehr erinnern, ich, ich weiß nur, dass..." Als ihr erneut die Stimme versagte, hatte ich bereits eine schreckliche Ahnung. Die sie bestätigte, sobald sie wieder sprechen konnte: „Nur dass mein Unterleib wehtut."

Ich ballte die freie Hand zur Faust. Young. Dieses kleine Arschloch. Hatte sie betäubt. Und vergewaltigt.

Und das macht er sicher nicht zum letzten Mal.

„Nicht, wenn ich es verhindern kann." Das konnte ich. Ich konnte ihn und Nolan und Lagarto und noch mehr von diesen Idioten ins Gefängnis bringen. Vermutlich würden nicht alle hinter Gittern landen, aber je besser ich mich anstellte, desto weniger würden nach meiner Mission noch die Chance haben, sich allzu bald wieder an einer Frau zu vergreifen. Ich musste nur so viele Beweise sammeln wie möglich. Und dafür musste ich hier bleiben. In Ethans Leben, in seiner Rolle. Damit Lacey, zumindest für einige Zeit, die Letzte war, die von Young vergewaltigt wurde.

Lacey – eine Frau, die ich eigentlich gar nicht kannte. Mit der ich nichts zu tun hatte.

Aber ich kannte mich selbst und war mir selbst gegenüber auch ehrlich genug, um genau zu wissen, dass ich mit der Schuld, ihr nicht geholfen zu haben, nicht leben könnte. Wenn ich jetzt ausstieg und in mein schönes, sicheres Leben zurückkehrte, dann würde ich mir das ewig vorhalten, diese verpasste Chance, Menschen zu helfen. Diese verpasste Chance, die jetzt sehr konkret war – zu konkret, um sie weiter aus meinem Kopf zu verdrängen.

Ich konnte nicht mehr aussteigen.

„Was hast du gesagt?", riss mich Laceys Frage aus meinen Gedanken. Stimmt. Sie war immer noch am Telefon.

Ich räusperte mich. „Dass du heute Abend natürlich nicht kommen musst", sagte ich dann. Ihr zu raten, wegen Young zur Polizei zu gehen, passte nicht zu meiner Rolle, und da ich beschlossen hatte, diese Rolle noch eine Weile zu spielen, würde ich ihr diesen Rat auch nicht geben. Das hieß aber nicht, dass ich kein Mitgefühl und Verständnis zeigen durfte. Das könnte ich auch gar nicht. „Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst, ja?"

Wieder klang es so, als wischte Lacey sich die Tränen weg. „Danke", schniefte sie. „Ich melde mich wieder... wenn es mir besser geht." Sie legte auf.

Ich starrte reglos auf das Handydisplay, bis der Bildschirm schwarz wurde. Dann erst atmete ich einmal tief durch und entsperrte es wieder, um einen anderen Kontakt auszuwählen. Ich musste nicht lange darauf warten, dass mein Anruf angenommen wurde, denn Matt war sofort zur Stelle: „Was steht an, Boss?"

„Arbeit", antwortete ich nüchtern. Eigentlich hatte ich Lagartos Angebot noch nicht offiziell angenommen, aber meine Entscheidung stand mit dem Beschluss, weiterzumachen, bereits fest: Ich würde die Frauen nehmen, denn nur so konnte ich ihnen helfen. Ich konnte und wollte ohnehin nicht bewerten, ob die Ware gut war, und das war auch egal, denn ich würde sie ihn jedem Fall nehmen. Nur so konnte ich mehr Kriminelle kennenlernen und endlich nützliche Beweise sammeln. Und zwar auf einer Veranstaltung, bei der alle, die in diese Geschäfte verwickelt waren, zusammenkommen würden.

„Wir müssen eine Auktion organisieren."

Becoming HimWhere stories live. Discover now