Kapitel 2

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Ich blinzelte.

Ihr Bruder ist tot.

„Oh", murmelte ich, in dem Bewusstsein, dass mein Schock vielleicht etwas größer sein sollte. Nicht, dass ich nicht geschockt wäre, das war ich, immerhin war Ethan tot. Aber da er mein Zwillingsbruder war, gewesen war, müsste ich eigentlich wesentlich geschockter sein. Eigentlich müsste gerade eine Welt für mich zusammenbrechen.

Nur war Ethan leider schon seit einer Weile kein Teil meiner Welt mehr.

„Das wusste ich nicht", murmelte ich und fasste noch den halben Gedanken, dass ich wohl besser ein bisschen betroffener klingen und vielleicht sogar schluchzend zusammenbrechen sollte. Aber erstens käme diese Reaktion ein wenig verspätet und zweitens war ich kein besonders guter Schauspieler.

Dass Ethan tot war... Ich wusste einfach nicht, wie ich mit dieser Nachricht umgehen sollte. Denn irgendwie war er für mich schon eine Weile tot. Seit fast fünf Jahren.

„Sie scheinen nicht besonders betroffen zu sein", bemerkte der jüngere Polizist argwöhnisch.

„Nein, ich..." Ich zögerte. Wie sollte ich das erklären? Sollte ich ihnen das überhaupt erklären?

Langsam wurden meine Gedanken wieder klarer und mir kam plötzlich eine Erkenntnis, die mich schwitzen ließ. Vor mir standen zwei Polizisten, zwei höherrangige Beamte, zwei Ermittler. Die extra hierher kamen, um mir mitzuteilen, dass mein Bruder tot war. Jetzt kommst du langsam auch drauf, was, Carter? Ich schüttelte leicht den Kopf. Den Sarkasmus meiner inneren Stimme konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Woher wissen Sie, dass er tot ist?"

Erst als die beiden Polizisten erneut einen bedeutungsvollen Blick wechselten, wurde mir bewusst, wie falsch sich das gerade angehört hatte. Wie der unglückliche Versuch, sie davon abzulenken, dass ich für den Angehörigen eines wohl gerade Verstorbenen zu gefasst wirkte. Und was für einen Grund hätte ich, genau davon abzulenken? Was dachten sie denn, was meine Motivation dazu war?

„Wir haben Ihren Bruder heute Morgen tot in seiner Wohnung gefunden", antwortete der ältere Polizist mit einer Kühle in der Stimme, die eben noch nicht da gewesen war. „Er wurde erschossen."

Ich schnappte erschrocken nach Luft. Oh Gott! Ethan, erschossen. Wo war er denn nur hineingeraten? Verdammt. Und ich verhielt mich gerade wie ein perfekter Verdächtiger. Ein perfekter Mordverdächtiger. Wenn ich sehr viel Glück hatte, hielten sie meinen jetzigen Schock vielleicht doch für eine verspätete Reaktion auf die Nachricht von Ethans Tod. „Ich war das nicht!", versicherte ich ihnen sofort. „Ich habe damit nichts zu tun!"

Natürlich hatte ich kein Glück – oder zumindest nicht genug. Die Polizisten betrachteten mich mit immer größerem Misstrauen. Verflucht, wie hatte ich das schon wieder hingekriegt? „Wir wissen, wer geschossen hat." Als der jüngere Polizist das sagte, war es mir im ersten Moment egal, dass seine Stimme dabei sehr kalt klang. Ich war erst einmal zu erleichtert, um mir darüber Gedanken zu machen. Für den Mörder hielten sie mich also nicht. Das war doch gut. Oder? Ich schluckte. Aber für irgendwie verdächtig hielten sie mich trotzdem. Dieser Eindruck wurde prompt bestätigt: „Aber das heißt ja nicht, dass Sie nichts damit zu tun haben."

Ich unterdrückte den Impuls, meinen Kopf gegen eine Wand zu schlagen. So eine Scheiße! Wenn ich mich einfach ganz normal verhalten hätte, dann wäre alles gut. Immerhin hatten sie ihren Täter schon. Aber statt ganz normal und geschockt zu sein, hatte ich mich bis jetzt mit jeder meiner Reaktionen verdächtiger gemacht. Wofür konnten sie mich drankriegen, wenn sie den Täter doch schon hatten? Beihilfe? Anstiftung? Verdammt.

Dabei hatte ich doch wirklich nichts getan. „Ich habe Ethan seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen", erwiderte ich, in der verzweifelten Hoffnung, sie damit von meiner Unschuld zu überzeugen. „Und ich habe seitdem auch nichts mehr von ihm gehört, ich, ich wusste nicht mal, dass er hier in LA ist, dass er..." Dass er am Leben ist. War.

Er hatte sich nie mehr gemeldet, nachdem er abgehauen war. Kein einziger Anruf und natürlich erst recht kein Besuch. Aber auch nicht einmal eine Nachricht. Ich hatte meine Nummer bis vor einem Jahr nicht gewechselt – einerseits, weil ich ein Gewohnheitsmensch war, andererseits, weil da immer noch die kleine Hoffnung gewesen war, dass er sich doch noch melden würde. Auch wenn es nur eine SMS mit dem Inhalt Hi gewesen wäre. Hi, hier ist Ethan, ich wohne jetzt in LA. Mir geht's gut. War es ihm gut gegangen? Bevor er erschossen wurde?

Erst letztes Jahr hatte ich meine Nummer gewechselt, als ich mir einen neuen, günstigeren Vertrag geholt hatte. Weil ich zu diesem Zeitpunkt den Gedanken aufgegeben hatte, dass er noch irgendwo da draußen sein und versuchen könnte, mich doch noch zu erreichen. Nach all der Zeit.

Ich blinzelte, als meine Augen plötzlich doch ein bisschen zu brennen begannen. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, sagte ich: „Ich schwöre, ich habe nichts mit seinem Tod zu tun. Ich habe seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihm gehört. Bitte, Sie müssen mir glauben! Ich habe nichts getan!"

„Darüber werden wir uns auf der Polizeiwache unterhalten", meinte der ältere Polizist gleichgültig und legte mir eine Hand auf den Rücken, um mich nicht grob, aber bestimmt Richtung Ausgang zu schieben. „Nachdem Sie den Toten identifiziert haben." Ganz kurz wurde mein Atem wieder ruhiger. Das war also der Grund, warum sie mich mitnehmen mussten – nur zu einer Identifizierung. Hoffentlich war das der Hauptgrund.

Der jüngere Polizist, der uns folgte, zerschlug meine Hoffnungen, als er in mein Ohr zischte: „Und dann führen wir ein schönes, langes Gespräch."

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt