Kapitel 5

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„Also." Agent West räusperte sich und nahm eine Akte zur Hand.

Nachdem ich eingewilligt hatte, bei seinem Plan mitzumachen, war er nach einem kurzen Moment des Triumphs schnell wieder ernst geworden und hatte mich in einen anderen Raum gebracht, einen, in dem uns niemand beobachtete oder belauschte. „Das LAPD wird zu gegebener Zeit über alles informiert werden, was sie wissen müssen", hatte er gesagt, „aber sie müssen nicht über alles Bescheid wissen." Verständlich. Je weniger Leute wussten, was wir vorhatten, desto weniger konnten mich verraten.

Deshalb standen wir nun in einem kleinen Büro mit abgeschlossener Tür und ganz sicher ohne Wanzen – beinahe ein bisschen paranoid, wie ich fand, hatte Agent West erst einmal den ganzen Raum nach Abhörtechnik abgesucht.

Jetzt, da er sich davon überzeugt hatte, dass er frei sprechen konnte, gab er mir ein Briefing über die Rolle, die ich spielen würde. „Ethan Carter, geboren in Houston, Vollwaise seit dem fünfzehnten Lebensjahr, davor bei den Eltern aufgewachsen, dann bei der Schwester seiner Mutter, mit sechzehn die Schule abgebrochen und von zu Hause abgehauen." Er rückte die Lesebrille, die er sich aufgesetzt hatte, zurecht, und sah mich über den Rand der Gläser hinweg an. „Bis dahin sollte dir deine neue Geschichte bekannt sein, richtig?"

Ich nickte. „Ja, diesen Teil kenne ich."

Er nickte zufrieden und fuhr fort: „Okay. Dann kommen wir jetzt zu dem Teil, der neu ist. Du hast keinen Zwillingsbruder namens Lucas, es gibt nur Ethan Carter. Du bist der Besitzer eines Nacht- beziehungsweise Stripclubs namens Nighthawk und gehörst zu einem Netzwerk von Menschenhändlern." Nighthawk. Unsere Mutter hatte eine Kopie von Edward Hoppers Gemälde über dem Schreibtisch gehabt. Wenigstens sie hatte Ethan also nicht vollständig aus seinem Leben verbannt. Auch wenn Mum sicher nicht begeistert wäre, wenn sie wüsste, was Ethan aus einer leicht abgewandelten Form des Titels ihres Lieblingsgemäldes gemacht hatte: einen Nacht- und Stripclub. Nein, das würde ihr ganz und gar nicht gefallen. Und mir gefiel es genauso wenig.

„Ein Stripclub?", wiederholte ich zögernd. Ich war noch nie in einem solchen... Etablissement gewesen. Nach dem Abschluss der Highschool waren zwar ein paar Jungs aus meiner Stufe in solche Clubs gezogen, um sich erwachsen und cool zu fühlen, aber sie hatten mich nicht gefragt, ob ich mitkommen wollte – sie hatten niemanden aus der Nerd-Clique mitgenommen. „Ich..."

„Du hast eingewilligt", erinnerte mich Agent West und schaute mich erneut über den Rand seiner Brille hinweg an. „Und wir ziehen das jetzt durch, klar?"

Wie konnte dieser Typ mit einer schief sitzenden Lesebrille auf der Nase nur so einschüchternd wirken? „Klar."

„Gut." Agent West räusperte sich. „Okay. Die Nachbarschaft wird am Rande mitbekommen haben, dass heute Morgen Polizisten in deinen Club gegangen sind, und ein paar haben vielleicht auch den Schuss gehört oder mitgekriegt, dass ein Leichenwagen gekommen ist."

Ich runzelte die Stirn. „In den Club? Aber Captain Wayne hat gesagt, dass sie Ethan in seiner Wohnung gefunden haben."

Agent West schien etwas ungehalten über die Unterbrechung zu sein, klärte mich dann aber trotzdem auf: „Deine Wohnung ist über dem Club – du wohnst im ersten Stock, im Erdgeschoss ist der Club und im Keller sind Lagerräume für Getränke und verschleppte Menschen." Wie er das einfach so sagte. Lagerräume für Getränke und verschleppte Menschen. Als wäre das etwas Alltägliches. Okay, für ihn war es das vielleicht. Und für mich würde es das sehr bald sein. Verdammt, worauf hatte ich mich hier nur eingelassen? Das ist eine gute Frage, Carter.

„Gut, zurück zum Plan." Als wüsste er, dass ich wieder zu zweifeln begann, sprach Agent West weiter, sodass ich gar keine Chance hatte, mir zu viele Gedanken zu machen. „Du wirst allen, die fragen, erzählen, dass die Frau, die deinen Bruder umgebracht hat, Selbstmord begangen hat. Das Gute ist, dass du dabei nicht einmal Schuldgefühle oder große Trauer vortäuschen musst, weil Ethan wahrscheinlich nur ein bisschen traurig über das Geld wäre, das die Frau ihm jetzt nicht mehr einbringen kann." Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich nicht erwidern konnte, weil mir schlecht war. Ethan hätte doch bestimmt Schuldgefühle, wenn ein Mensch sich in seiner Wohnung erschoss. Oder? „Jedenfalls wirst du dann sagen, dass du deswegen auch den ganzen Tag nicht zu erreichen warst, weil du zu beschäftigt damit warst, ein paar deiner korrupten Polizeikontakte zu bestechen, damit der Fall schnell als Suizid zu den Akten gelegt wird."

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt