Kapitel 1

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„Die Verbindung zur Ebene der Gesellschaftskritik wird über die Figur des Manolin und der Thematik der Partnerschaft hergestellt, die an die Stelle der natürlichen Vaterschaft bzw. der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau in den frühen Werken Hemingways tritt. Leitmotivisch klingen mit dem" – Professor Mallory legte eine Pause ihres Monologs ein, um sich vernehmlich zu räuspern und so zu überspielen, dass sie eben über ein ihr wohl weniger geläufiges Wort gestolpert war – „Baseballspiel gleichermaßen die weiteren Themen an: Zeitung, Radio und das soziale Umfeld im Hafenrestaurant."

Lucy hob neben mir die entgegen jeden Trends wild wuchernden, dunklen Augenbrauen. Ein klassischer Ernsthaft?-Blick. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, was sie mir damit sagen wollte, deshalb ging ich davon aus, dass es sich in diesem Fall doch eher um einen Ich-sterbe-gerade-vor-Langweile-Blick handelte. Als ich unschlüssig mit den Achseln zuckte, formte sie mit den Lippen ein Wort mit fünf Silben. Die ersten beiden Silben enthielten ein I – so viel hatte ich verstanden. Mehr leider nicht.

Lucy verdrehte die Augen, ließ sich frustriert gegen die Lehne ihres Sitzplatzes sinken und zog ihr Handy aus der Tasche.

Ich seufzte tief. Mit dieser Einstellung war es kein Wunder, dass sie in der letzten mündlichen Prüfung beinahe durchgefallen wäre. Sie wurde von den meisten Professoren und am allermeisten von Professor Mallory gehasst. Dazu kam wahrscheinlich noch, dass Lucy zwar gerne und viel redete, aber selten über das Thema. Irgendwie schaffte sie es immer, das Gespräch auf die Rettung des Klimas und des Weltfriedens zu lenken. Keine Ahnung, wie sie das hinbekam.

Okay – doch. Sie interessierte sich einfach nicht immer für das, was ihr Gegenüber zu sagen hatte. Wenn ich mir von ihrer Haltung eine Scheibe abschneiden würde, wäre mein Leben sicher wesentlich einfacher.

Und du würdest auch auf Mallorys Abschussliste landen. Manchmal hasste ich meine Stimme der Vernunft. Obwohl sie natürlich Recht hatte.

Ich versuchte, mich wieder auf die Vorlesung zu konzentrieren. Obwohl das mittlerweile sonst keiner mehr tat – so wie meistens kurz vor Schluss. Der Typ in der Reihe vor uns hatte in den letzten fünf Minuten mindestens achtmal auf seine Uhr geschaut. „Auch er erduldet das Leiden und kämpft weiterhin für seine Mannschaft trotz einer schmerzhaften Fußknochenverletzung. Die Yankees können nicht verlieren, wenn er wieder der Alte ist; mit dieser beabsichtigten Szenenaussage wird gleichzeitig deutlich, dass..."

„Professor Mallory?" Als Lucy plötzlich aufstand, ihr Handy in der einen und ihren Jutebeutel in der anderen Hand, zuckte ich vor Schreck zusammen und versuchte dann, so tief wie möglich in mich zusammenzusinken, um den Blicken zu entgehen, die sich auf uns richteten. Den Blicken aller anderen Studenten. Aber am schlimmsten waren Professor Mallorys missbilligend verkniffene kleine Augen. Die uns beide durchbohrten. Herzlichen Glückwunsch: Du bist tot, Carter. „Tut mir leid" – ja, bestimmt – „aber ich muss jetzt los, zu einer Demo." Dieser Teil war eventuell nicht einmal gelogen. „Und eigentlich sollte die Vorlesung schon längst vorbei sein. Sind wir also für heute fertig?"

Wenn Blicke töten könnten, bräuchte die Welt eine neue Retterin. Aber Lucy, todesmutig oder lebensmüde, blieb vollkommen gelassen. Was Professor Mallory selbstverständlich nur noch wütender machte. „Dass Miss Clayton offenbar etwas Wichtigeres zu tun hat", meinte sie spitz, „ist natürlich ein berechtigter Grund, die Vorlesung zu unterbrechen." Sie rümpfte die Nase. „In diesem Sinne: Jeder, der ebenso empfindet, darf jetzt gerne gehen." Beinahe herausfordernd reckte sie das faltige Kinn.

Aber die meisten bekamen das gar nicht mehr mit, weil sie zu beschäftigt damit waren, ihre Sachen zusammenzupacken und den Hörsaal zu verlassen. Ich versuchte noch verzweifelt, den Eindruck zu erwecken, dass ich diese Aktion nicht guthieß – was wohl eher weniger glaubhaft endete, weil Lucy mich ungeduldig am Ärmel Richtung Ausgang zog. Als wir an Professor Mallory vorbeigingen, hatte diese sich zum Glück bereits selbst daran gemacht, unter schimpfendem Murmeln ihre Unterlagen in ihre Tasche zu stopfen.

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt