Kapitel 28

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Mein Körper schmerzte immer noch. Meine Finger taten immer noch weh und meine Rippen standen immer noch mit jedem Atemzug von neuem in Flammen. Das bedeutete, dass der Tod entweder doch nicht so schmerzfrei war, wie ich gedacht hatte, und der Himmel nicht so toll war, wie alle immer sagten, oder das hieß...

Nein. Das ergab doch keinen Sinn. Goodwin hatte die Pistole auf meine Stirn gerichtet. Einen solchen Treffer konnte man nicht überleben. Und er hatte geschossen. Er musste geschossen haben. Denn er hatte den Finger am Abzug gehabt, bevor ich die Augen geschlossen hatte. Er musste abgedrückt haben – immerhin hatte ich einen Schuss gehört. Ich war also tot. Oder etwa nicht?

Ich zuckte zusammen. Ein weiterer Schuss. Wieso fielen im Himmel Schüsse? Oder war ich doch in der Hölle gelandet? Aber dort sollte doch beinahe genauso wenig mit Schusswaffen herumgefeuert werden. Vielleicht war ich also weder im Himmel noch in der Hölle. Vielleicht war ich doch nicht tot. Vielleicht... Nein, ich konnte doch nicht mehr am Leben sein. Oder? Mach doch einfach mal die Augen auf!

Ich versuchte es. Zu meiner Überraschung funktionierte es. Und ich fand mich in dem Kellerraum wieder, noch immer an den Stuhl gefesselt. An meiner Situation hatte sich nichts geändert. Aber da war ich anscheinend der Einzige. Denn Goodwin und Paul lagen am Boden. Ersterer mit einem blutigen Loch im Hinterkopf, Letzterer mit einer gleichartigen Wunde in der Brust. Keiner von beiden rührte sich.

Langsam sah ich auf, zu der einzigen Person, die noch stand. Matt. Matt, der schwer atmete und einen Revolver in der Hand hielt. „Was..." Ich konnte nicht zu Ende sprechen. Ich wusste nicht einmal, was ich eigentlich fragen wollte. Vielleicht etwa so etwas wie: Was zum Teufel ist passiert?

„Sie wollten dich töten", erklärte Matt, während er langsam die Hand mit der Waffe senkte. Er schien ein bisschen unter Schock zu stehen. Verständlich. Er hatte gerade zwei Menschen erschossen. Goodwin und Paul waren beide tot. Und Matt hatte sie getötet. Um mir das Leben zu retten. Das musste ich auch erst einmal verarbeiten.

Und verstehen. „Warum hast du das getan?"

Matt steckte den Revolver weg und kam zu mir. Als er dabei über Goodwins Leiche hinweg steigen musste, schluckte er schwer. Dass er geschossen und getötet hatte, war ihm offenbar nicht gleichgültig, aber er schien es auch nicht allzu sehr zu bedauern. Um meine Frage zu beantworten, wiederholte er nur, was er eben schon gesagt hatte: „Sie wollten dich töten." Mit dem Messer, das Goodwin fallen gelassen hatte, machte er sich daran, meine Handgelenke von den Kabelbindern zu befreien.

„Ja, ich weiß", erwiderte ich. „Aber warum hast du mir geholfen?" Er kannte mich doch gar nicht. Er hatte bloß meinen Bruder gekannt. „Ich, ich bin nicht Ethan."

Matt lächelte schwach und durchtrennte den zweiten Kabelbinder. „Ich weiß", meinte er und warf das Messer weg. „Ich weiß das seit dem Treffen mit der Echse." Oh.

„Warum hast du nichts gesagt?" Wenn er mich wirklich schon so früh durchschaut hatte, dann hätte er mich doch damit konfrontieren können. Oder Goodwin darüber informieren können, dass es einen Spitzel in seinen Reihen gab, der eliminiert werden musste. Wieso hatte er es für sich behalten? Wieso hatte er nichts gesagt?

„Weil dann genau das passiert wäre, was heute passiert ist", antwortete Matt, als wäre das eine ausreichende Erklärung. Seine dunklen Augen huschten kurz zu meinem zerschundenen Oberkörper, bevor sie sich wieder auf mein ebenfalls zerschlagenes Gesicht richteten. „Und das ist nicht... okay. Tut mir leid, dass ich nicht schon früher eingeschritten bin." An seinem Blick sah ich, dass er sich deswegen tatsächlich schuldig fühlte.

„Nein", sagte ich schnell. „Du musst dich doch nicht entschuldigen." Ich nahm es ihm nicht übel. Die Entscheidung, einzugreifen, musste eine schwierige gewesen sein. Immerhin hatte er jetzt zwei Menschen getötet. Um einen dritten zu retten. Ja. Rechtlich fiel das wohl unter Nothilfe. Aber es musste trotzdem schrecklich für ihn sein, mit dem Gefühl, zwei Menschen auf dem Gewissen zu haben, leben zu müssen. Ich war nur irgendwie beteiligt gewesen am Tod von Morris, ich hatte, wenn ich abgedrückt hatte, nicht mit Absicht gehandelt – und doch war schon diese vergleichsweise geringere Schuld furchtbar für mich. Nein, ich machte Matt ganz sicher keine Vorwürfe dafür, dass er mir nicht schon früher geholfen hatte. „Ich bin..." Ich seufzte tief. „Ich bin einfach nur dankbar, dass du mir das Leben gerettet hast. Danke."

Becoming HimWhere stories live. Discover now