Kapitel 14

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„Falls du immer noch aussteigen willst, dann..."

„Will ich nicht", stellte ich ruhig klar. Nein, ich würde nicht aussteigen, bevor ich nicht genug Beweise gesammelt hatte, um Young, Nolan und die anderen hinter Gitter zu bringen. Also sicher nicht vor der Auktion.

Nach einem kurzen Zögern seufzte Agent West erleichtert auf. „Gut", meinte er. „Ich hätte schon fast wieder aufgelegt."

Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht wirklich damit gerechnet, dass er meinen Anruf überhaupt annehmen würde. Immerhin war es bald fünf Uhr morgens und normale Menschen schliefen um diese Uhrzeit tief und fest. Aber als er mir dieses Handy gegeben hatte, hatte er mir versichert, dass ich ihn zu jeder Uhrzeit erreichen konnte. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht ganz ernst genommen hatte. Jetzt schon.

„Machen Sie das nicht", sagte ich. „Ich muss mit Ihnen reden." Deswegen, weil er auch etwas für die Auktion am Montag vorbereiten musste, hatte ich trotz meiner recht pessimistischen Erwartungen seine Nummer gewählt. „Heute Abend kommt eine Lieferung, die ich kaufen und morgen Abend versteigern werde. Die Auktion ist schon organisiert." Es sollte mich erschrecken, wie leicht mir diese Worte schon über die Lippen kamen, ohne ein Zögern vor dem Begriff Lieferung oder dem Wort Auktion. Stattdessen war ich fast ein bisschen stolz auf mich. Vielleicht konnte ich es doch noch schaffen so zu werden wie Ethan.

Solange du nach dieser Sache auch wieder du selbst werden kannst... Ich ging nicht davon aus, dass das ein Problem werden könnte. Nein, das würde mir sicher nicht schwer fallen.

Einen Augenblick lang war Agent West sprachlos. „Ich bin beeindruckt", sagte er schließlich. „Du scheinst dich schneller eingelebt zu haben, als ich dachte." Und viel, viel schneller als ich es selbst für möglich gehalten hätte. Wobei ich mich nicht wirklich eingelebt hatte – ich hatte eher einen sehr konkreten Anreiz gefunden, um Agent West zu helfen, und mich dann mit der Situation arrangiert. „Gab es irgendwelche Probleme?"

Ich schüttelte den Kopf und sagte gleichzeitig „Nein", denn diese Geste konnte er am anderen Ende der Leitung ja nicht sehen. „Na ja, nicht wirklich. Ich dachte ein paar Mal, dass Matt mich irgendwie verdächtigt, aber da habe ich mich wahrscheinlich nur verrückt gemacht." Dieses Mal behielt ich die Tür des Wohnzimmers, die ich geschlossen hatte, fest im Blick, um nicht wie beim letzten Telefonat überrascht zu werden. Sonst würde sich daran, dass Matt mich vermutlich nicht für verdächtig hielt, ganz schnell etwas ändern. „Und es gab heute ein kleines Problem mit einem Kommilitonen von mir, Dean Laurent. Er hat mich natürlich erkannt, aber ich habe ihn aus dem Club geworfen und ihm Hausverbot erteilt, bevor er mich verraten konnte." Den weniger souveränen Teil der Geschichte, also meine blutige Nase und Matts Hilfe bei Deans Vertreibung, ließ ich bei meiner Zusammenfassung der Ereignisse nicht ganz unbewusst weg. Das war nichts, was Agent West unbedingt wissen musste.

„Ich werde mich darum kümmern, dass er dich nicht gefährdet", versprach Agent West und schloss das Thema Probleme damit ab. „Und diese Auktion ist auf morgen Abend angesetzt?"

„Ja, genau."

„Gut", meinte er. „Dann schick mir alle Infos, damit ich schon einmal alles vorbereiten kann. Auf dieser Auktion werden wohl die meisten Beteiligten zusammenkommen. Wir werden also ein bisschen Technik brauchen, um die Beweise zu sammeln."

„Und wie ist der Plan genau?", fragte ich. „Ich meine: Führen wir die Auktion bis zum Ende durch oder, ähm, stürmen Sie irgendwann das Gebäude und verhaften alle?" Im zweiten Fall wäre meine Mission morgen Abend bereits vorbei – wogegen ich nichts einzuwenden hätte. Aber er war der Experte, deshalb sollte er wohl besser einschätzen, wann wir genug Beweise hatten, um die Sache sinnvollerweise zu beenden.

„Das muss ich noch abklären", antwortete Agent West, was zwar keine sonderlich hilfreiche, aber dafür eine ehrliche Antwort war. „Aber sofern keine weiteren Anweisungen kommen, bringst du die Auktion zu Ende, lässt alle nach Hause fahren und bleibst erst einmal Ethan, klar?"

„Klar", erwiderte ich. Es war schon sinnvoll, die Entscheidung noch nicht jetzt zu treffen. Ja, die meisten Involvierten würden zur Auktion kommen. Aber nicht alle – ein paar hatten Matt und ich eingeladen, doch sie hatten abgesagt; einige von den in Ethans Handy gespeicherten Kontakten hatte Matt allerdings auch gar nicht erst informiert, aber ich hatte mich nicht getraut, nach dem Grund zu fragen, denn falls es einen triftigen gab, müsste Ethan ihn schließlich bereits kennen.

„Gut", meinte Agent West. „Schick mir die Informationen und eventuell melde ich mich wieder." Ohne eine Abschiedsfloskel beendete er das Gespräch und legte auf.

„Ja, okay, tschüss", sagte ich in die Stille hinein und verdrehte die Augen. Dann hielt ich inne. Etwas irritierte mich und nach einem Augenblick wusste ich auch, was es war: Stille – unten lief keine Musik mehr. Ich warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Handys und stellte fest, dass die Zeit schneller vergangen war als ich gedacht hatte. Mittlerweile war es fünf. Was bedeutete, dass ich jetzt den Club schließen musste.

Mit einem Gähnen – ich hatte mich immer noch nicht an diese neuen Arbeitszeiten gewöhnt – steckte ich das Handy weg und ging nach unten in den Club, um meinen Job zu erledigen. Ethans Job. Wie auch immer.

Wie gestern verließ der DJ den Club als Erster, danach ging Paul, der Türsteher. Als er sich verabschiedete, steckte ich gerade mitten in der Dienstbesprechung mit den Stripperinnen, die ich ganz vergessen hatte. Was für ein Glück, dass mich die Damen freundlicherweise daran erinnert hatten und mich mit ihren hohen Stimmen wach genug hielten, dass ich mir ihre Vorschläge und Wünsche anhören und allem schlichtweg zustimmen konnte. Alles mit dem Ziel, die Besprechung schnellstmöglich hinter mich zu bringen und endlich schlafen zu können.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war alles geklärt und sie verabschiedeten sich ebenfalls. Nun waren außer mir nur noch zwei Leute übrig: Matt und Green. Ersterer sah zwischen ihr und mir hin und her, hob die Augenbrauen ein kleines Stück weit und entschied dann mit einem leichten Lächeln: „Okay, ich geh dann mal. Bis später, Boss." Und schon war ich mit Green allein. Sie hatte bereits ihre Tasche aus dem Mitarbeiterraum geholt, stand jedoch noch an der Bar, mittlerweile in Turnschuhen, aber immer noch in diesem verboten tief ausgeschnittenen grünen Oberteil.

Ich räusperte mich vernehmlich. „Ähm, gibt es noch Gläser zum Spülen?" Ich ging eigentlich nicht davon aus, aber das war die erste Gesprächseinleitung, die mir spontan einfiel. Ja, ich war ein großes Smalltalk-Talent.

Green lachte. „Nein, heute nicht." Sie hatte ein schönes Lachen. „Ich wollte mich einfach nur für vorhin bedanken." Als ich sie mit gerunzelter Stirn fragend ansah, zuckte sie die Achseln und meinte: „Na ja, dafür, dass Sie mich so in Schutz genommen haben vor diesem Ekel." Sie wies auf meine Nase. „Und Sie haben sich ja sogar eine gefangen. Wegen mir?"

Nun ja, indirekt. Möglicherweise unter anderem. Anstatt sie darauf hinzuweisen, dass es bei der Auseinandersetzung mit Dean um mehr und Wichtigeres gegangen war als die Tatsache, dass er ihr auf den Hintern gestarrt hatte, hob ich ebenfalls die Schultern. „Tja." Ich würde sie in dem Glauben lassen – immerhin war das keine richtige Lüge. Es war mir durchaus auch ein Anliegen gewesen, sie vor Deans Blicken zu schützen. „Wie gesagt: Ich kümmere mich um meine Mitarbeiter und Sie sind eine meiner Mitarbeiterinnen, Miss Green."

„Melissa", meinte sie. „Nennen Sie mich doch Melissa."

Das glückliche Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, hätte ich nicht verhindern können, selbst wenn ich es versucht hätte. Wow. Normalerweise boten mir fremde Personen, insbesondere Frauen, nicht so schnell den Wechsel zum Vornamen an. Das ist toll, aber krieg dich trotzdem wieder ein, ja? Ja, vermutlich war es eher uncool, zu euphorisch zu reagieren. „Nur, wenn du Ethan zu mir sagst", erwiderte ich also, in Gedanken halb bei meinem Gangsterboss-Mantra.

Melissa erwiderte mein Lächeln. „Na dann, Ethan." Sie strich sich eine dunkle Locke hinters Ohr und diese Handbewegung schien mir in diesem Moment die faszinierendste, eleganteste Geste zu sein, die ich je gesehen hatte. Eine Portion Wehleid mischte sich in meine Faszination, als mir klar wurde, dass wir kurz vor der Verabschiedung standen. Und danach würde ich sie erst am Mittwochabend wieder sehen. Dabei war es noch eine schrecklich lange Ewigkeit bis dahin... „Dann gehe ich auch mal nach Hause. Wir sehen uns am Mittwoch." Sie machte sich auf den Weg zur Tür. „Gute Nacht!"

Wie beim letzten Mal sah ich ihr hinterher, bis sie verschwunden war.„Gute Nacht, Melissa."

Becoming HimWhere stories live. Discover now