Kapitel 7

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Die Realität war ein Club in einem Viertel von Los Angeles, in dem ich noch nie gewesen war. Zumindest nie so lange, dass ich mich noch daran erinnern könnte – es war schon möglich, dass ich schon einmal mit dem Auto durch diese Straßen gefahren war. Aber ich hatte hier nie angehalten. Ich konnte nicht tanzen und mochte keinen Alkohol, also ging ich nicht in Clubs oder Diskos. Ich hielt nichts von Bordellen oder Ähnlichem. Ich hatte keine Freunde, die ich hier besuchen könnte, denn Lucy lebte in einem anderen Viertel. Und ich hatte nicht riskieren wollen, in irgendetwas hineinzugeraten, in irgendeine Prügelei zwischen Betrunkenen zum Beispiel. Oder in irgendetwas Kriminelles.

Na ja. Diesen Vorsatz hatte ich hiermit gebrochen.

Ich seufzte tief und warf einen Blick in den Spiegel in Ethans Badezimmer; hinter mir wurde das Rauschen und Gluckern der Klospülung allmählich leiser.

Über der Stelle, an der ich im Gegensatz zu meinem Bruder keine Narbe hatte, klebte nun ein Pflaster – die Geschichte dazu war, dass ich mir eine Platzwunde zugezogen hatte, als mich die Frau, die Ethan erschossen hatte, bei einem Fluchtversuch gegen eine Kommode gestoßen hatte. Jetzt durfte ich dieses Pflaster nur für die nächsten Wochen nicht abnehmen, höchstens, wenn ich alleine war, um es kurz auszuwechseln. Denn die fehlende Narbe würde mich auf jeden Fall verraten, wenn jemand davon erfuhr. Vorausgesetzt, ich verriet mich nicht vorher durch irgendetwas anderes. Es gab genügend Möglichkeiten, diese Sache hier zu versauen.

Der Test auf der Polizeiwache hatte gut geklappt, aber da war ich in Sicherheit und nicht nervös gewesen. Jetzt schwitzten meine Hände vor Nervosität. Jederzeit könnte jemand hier hereinkommen oder mich anrufen und dann musste ich funktionieren, als Ethan, als Gangster. Wenn ich das nicht tat, endete ich vielleicht wie er, mit einer Kugel in der Brust. Oder noch schlimmer.

Ich schüttelte den Kopf. Darüber wollte ich nicht nachdenken. Und das solltest du auch nicht. Meine Stimme der Vernunft hatte mal wieder Recht. Ich durfte mich nicht zu verrückt machen, sonst wurde alles nur noch viel schlimmer.

Und es war schon schlimm genug.

Ich hatte in den letzten Stunden versucht, mir alles einzuprägen, was auf der Liste stand, die Agent West mir gegeben hatte: die Namen, manchmal auch die Tätigkeiten, meiner neuen Geschäftspartner. Ich hatte versucht, mithilfe der Chatverläufe auf Ethans Handy herauszufinden, in welchem Verhältnis ich zu diesen Personen stand und wie der Umgangston sein sollte.

Aber ich hatte nicht sonderlich viel Zeit dafür gehabt. Agent West hatte mich dazu gedrängt, so schnell wie möglich Ethans Platz einzunehmen, und obwohl ich seine Beweggründe zwar nachvollziehen konnte, wäre es mir doch lieber gewesen, wenigstens heute noch in meinem eigenen Leben bleiben zu können. Um mich mental auf meine Aufgabe, meine Mission, wie Agent West sie im Scherz genannt hatte, vorzubereiten. Und eventuell wieder zu Verstand zu kommen und einen Rückzieher zu machen. Ja, das vielleicht auch. Und genau deswegen hatte Agent West schließlich auch darauf bestanden, dass ich sofort anfing. Außerdem war es eben besser, wenn Ethan nicht zu lange von der Bildfläche verschwunden blieb – das könnte Verdacht erregen und das konnte ich nicht gebrauchen.

Mit einem weiteren Seufzen fuhr ich mir durch die Haare und bereute es sofort. Ich war nicht daran gewöhnt, Gel in meinen Haaren vorzufinden. Jetzt klebten meine Hände. Toll gemacht, Carter. Zum Glück stand ich gerade sowieso vor dem Waschbecken und musste mir nach dem Toilettengang eben ohnehin die Hände waschen.

Nachdem ich meine Hände abgetrocknet hatte, verließ ich das Badezimmer. Als ich hier angekommen war, hatte ich zu dringend auf die Toilette gemusst, um mir irgendetwas genauer anzusehen. Das würde ich jetzt nachholen.

Es gab vier Zimmer: ein Bad, eine Küche, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Das Bad war uninteressant und bis auf den übermäßig großen Vorrat an Zitronenshampoo gewöhnlich. Da Badezimmer häufig steril und funktional gehalten wurden, fiel hier nicht auf, was in der ganzen Wohnung fehlte: Persönlichkeit, irgendein Anzeichen dafür, dass hier ein Individuum mit einem Leben, einer Geschichte und Interessen lebte. Die anderen drei Räume waren genauso eingerichtet wie das Bad: stilvoll, aber doch eher funktional. Wie ein Schauraum von IKEA. Es gab keine Fotos, keine Bücher, keine CDs, keine Pflanzen – auf den ersten Blick entdeckte man nichts davon, nichts Persönliches.

Als ich mich genauer umsah, fand ich doch ein paar Dinge: ein Kugelschreiber von unserer Highschool neben dem Zettelspender auf dem Küchentisch, eine Motorrad-Zeitschrift in der oberen Schublade des Nachttischs, Ethans alter Glücksanhänger in der unteren Schublade, eine Sammlung von Bierdeckeln am Boden des hauptsächlich schwarz bestückten Kleiderschranks, die zu einem... interessanten Symbol drapiert waren – einem, das mein Bruder damals in der Schule auf jeden seiner Tische gemalt hatte –, Ethans Gitarre neben dem Fernseher im Wohnzimmer und natürlich überall die obligatorischen Zitronenduftkerzen.

Ich schloss die Augen und atmete tief den Zitronenduft ein. Sofort fühlte ich mich in Ethans Zimmer bei Tante Em zurückversetzt. Dem Zimmer, in dessen Türrahmen ich gestanden hatte, an dem Tag, an dem er abgehauen war, und nichts getan hatte.

Manchmal stellte ich mir die Frage, warum Ethan damals abgehauen war. Und meine immer ehrliche innere Stimme gab mir jedes Mal die Antwort darauf.

Tante Em hatte mich immer bevorzugt und das auch relativ offen gezeigt. Ich war derjenige, mit dem sie stundenlang über Literatur sprechen konnte. Mit Ethan hatte sie immer nur sinnlose Diskussionen darüber geführt, wie lange er noch am Handy sein durfte. Sinnlos deswegen, weil Ethan sich immer durchgesetzt hatte. Nicht, weil er die besseren Argumente gehabt hatte, sondern weil sie immer irgendwann aufgegeben hatte. Sie hatte ihn aufgegeben.

Und damit hatte alles angefangen.

Er hatte sich vernachlässigt gefühlt, zu Recht. Er war immer seltener zu Hause gewesen, hatte sich immer öfter mit Freunden getroffen, die ich nicht einmal kannte, obwohl wir auf dieselbe Highschool gegangen waren. Wahrscheinlich Freunde von außerhalb, ältere Freunde, die ihm Alkohol und Zigaretten besorgten. Weil der Zitronengeruch, der ihn umgab, zu der Zeit so dominant gewesen war, hatte ich erst gemerkt, dass er trank, als ich unter seinem Bett eine angebrochene Flasche Wodka gefunden hatte. In der Schule hatte er sich zum Ende hin auch kaum noch blicken lassen. Und dann hatte er abgebrochen, mit sechzehn, und war abgehauen.

Als ich ihn dabei erwischt hatte, wie er seine Sachen zusammenpackte, hatte ich ihn zum letzten Mal gesehen. Er hatte mir nicht gesagt, wo er hin wollte, nur dass er die Stadt und vermutlich auch den Staat verlassen und nie wieder zurückkehren würde. Und dass ich weder versuchen sollte, ihn aufzuhalten, noch nach ihm zu suchen, sobald er fort war. Er hatte mir sogar gedroht und ich war zu überfordert gewesen, um irgendetwas zu tun außer in seinem Türrahmen zu stehen und zuzusehen, wie er ein paar letzte Sachen in seine Sporttasche packte.

Ich hätte die Tür schließen und verbarrikadieren können – aber dann wäre er vielleicht einfach aus dem Fenster gesprungen, das wäre nur ein Zwei-Meter-Sprung gewesen. Ich hätte Tante Em auf der Arbeit anrufen können – aber sie wäre vermutlich nicht rechtzeitig gekommen. Ich hätte irgendetwas tun sollen.

Dann wäre Ethan jetzt vielleicht nicht tot.

Und ich stünde nicht hier, wie ein verdammter Idiot, zum ersten Mal in der Wohnung meines toten, meines erschossenen Bruders, bereit, seinen Platz einzunehmen. Nein, eigentlich war ich nicht bereit, ganz und gar nicht. Ich wollte nur noch hier weg, ich wollte nach Hause, ich wollte... Reiß dich zusammen, Carter. Du hast es versprochen. Ich biss die Zähne zusammen. Ja, das stimmte. Ich wusste immer noch nicht, wieso ich zugelassen hatte, dass Agent West mir das Versprechen abrang, es zu versuchen, es wirklich und ernsthaft zu versuchen. Und nicht abzubrechen, bevor das Ganze überhaupt angefangen hatte. Was aber leider genau das war, was ich im Moment unbedingt tun wollte.

Ich erstarrte, als ich plötzlich etwas hörte. Schritte. Schwere Schritte, die die Treppe vom Club zur Wohnung heraufkamen. Wer war das? Einer der Geschäftspartner, deren Namen ich mir ins Gehirn gehämmert hatte? Und von denen mir gerade kein einziger einfiel? Oder jemand anderes? Aber wer denn? Und was wollte er? Oder sie?

Angespannt warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Oder besser: auf mein leeres Handgelenk, denn ich musste feststellen, dass ich keine Uhr mehr trug, weil Ethan auch keine getragen hatte. Also zog ich Ethans Handy aus der Tasche. 16:47 Uhr. Der Club öffnete erst um dreiundzwanzig Uhr. Wer konnte denn um diese Uhrzeit etwas von mir wollen?

Erneut hielt ich inne. Lauschte. Ich hörte keine Schritte mehr. Was...

„Was machst du denn da?"

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt