Kapitel 6

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„Wo gehen wir hin?", fragte ich. Agent West führte mich durch die Polizeistation und allem Anschein nach hinunter in das Untergeschoss des Gebäudes. Ich räusperte mich. „Ähm, ich war schon bei der Rechtsmedizin. Und inwiefern kann uns das dabei helfen, herauszufinden, ob..."

„Wir gehen nicht zur Rechtsmedizin", unterbrach mich Agent West über die Schulter hinweg. „Da unten sind auch Arrestzellen." Er blieb stehen und wies auf die Tür zu seiner Rechten. Eine verschlossene Tür, die massiv wirkte und auf Augenhöhe ein kleines Fenster hatte.

Ich spähte vorsichtig hindurch und runzelte die Stirn. Auf einem Stahlbett mit einer dünnen Matratze hockte mit angezogenen Knien eine Frau in einer engen Jeans und einem übergroßen Männer-T-Shirt, das lose um ihren dürren, bleichen Körper hing. Sie starrte geradeaus, an der Tür vorbei, und ihre blonden Haare verdeckten ihr Gesicht wie ein schmutziger, strähniger Vorhang. „Wer ist das?"

„Unsere Versuchsperson", antwortete Agent West, weiterhin kryptisch. Als ich die Augen verdrehte, um ihm zu zeigen, wie sehr mir diese Information weiterhalf, lächelte er und klärte mich auf: „Das ist die Frau, die dein Bruder verkaufen und vergewaltigen wollte."

Ich zuckte zusammen. Gott, das sollte ich mir dringend abgewöhnen. Wenn wir vom Test zur richtigen Umsetzung des Plans übergingen, dann durfte ich es mir nicht mehr erlauben, jedes Mal zu erschrecken, wenn jemand etwas über die Kriminalität meines Bruders sagte. Über meine Kriminalität – immerhin würde ich bald er sein. Und dieser Frau gegenübertreten, die einzige Person, die Ethan kennen gelernt hatte, aber aus der ganzen Sache herausgehalten, für alle Beteiligten für tot erklärt werden und mich somit nicht gefährden konnte. Die Person, die Ethan getötet hatte.

„Ich halte das für keine gute Idee." Erstens würden wir sie traumatisieren, wenn ich vor ihr plötzlich als Ethan von den Toten zurückkehrte. Und zweitens wusste ich nicht, wie ich mit dem direkten Kontakt zur Mörderin meines Bruders umgehen würde. Ethan hatte vorgehabt, sie zu vergewaltigen. Also hatte sie wohl aus Notwehr gehandelt. Aus Verzweiflung. Und deshalb konnte ich ihr nicht böse sein. Und gleichzeitig müsste ich das. Ich müsste sie dafür hassen, müsste Ethans Tod rächen wollen. Das war doch irgendwie meine Pflicht als sein Bruder, oder? Aber immerhin hatte er... angefangen. Das war ein kindischer, gleichzeitig aber auch ein ziemlich rationaler Gedanke. Ethan war mitverantwortlich dafür, dass diese Frau verschleppt und vermutlich auch verletzt worden war. Gab ihr das das Recht, ihn umzubringen? Gab mir das einen Grund, Mitleid mit ihr zu haben?

Verdammt. Ohne moralische Fragen wäre das Leben so viel einfacher. Das ist der erste Schritt in die Kriminalität, Lucas. Ja. Vielleicht.

Agent Wests Kopfschütteln auf meine Bedenken hin machte mir deutlich, dass er sich davon nicht würde abbringen lassen. „Doch, das ist eine sehr gute Idee", widersprach er. „Das hier ist eine gesicherte Umgebung: Dir wird nichts passieren, auch wenn du es vermasselst, weil sie dir nichts tun wird und dir auch nichts tun kann, weil ich dabei bin." Er überprüfte noch einmal, ob meine Haare auch wirklich die narbenlose Stelle an meiner linken Schläfe verdeckten. „Aber du solltest natürlich trotzdem versuchen, es nicht zu vermasseln." Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und begann, nach dem richtigen Schlüsselbund zu suchen. Es sah zwar ganz danach aus, als wäre das nicht sein Schlüsselbund, weshalb er wohl eine Weile brauchen würde, um den richtigen Schlüssel zu finden. Aber ewig würde seine Suche auch nicht dauern. Und er würde mich sicher nicht noch einmal fragen, ob ich bereit war, bevor er die Tür aufschloss und mich in die Zelle schickte.

Also musste ich mich jetzt vorbereiten. Schnell. Aus meinem Kopf die Frage verdrängen, wie ich ihr als der Bruder des Mannes entgegentreten sollte, den sie erschossen hatte. Denn ich würde ihr nicht als Lucas begegnen, sondern als Ethan. Ich durfte jetzt kein nerdiger Bücherwurm mehr sein. Ich musste jetzt ein cooler, selbstsicherer Typ sein, der zu dem Badboy geworden war, den er immer vorgespielt hatte. Sei ein Gangsterboss, Carter. Diese Einstimmung kam mir zwar selbst irgendwie lächerlich vor, aber sie half mir dabei, mich in das Gefühl hineinzuversetzen, mit dem ich gleich diese Zelle betreten musste. Sei ein Gangsterboss. Das würde jetzt mein neues Mantra werden. Sei ein Gangsterboss.

„So, Ethan", meinte Agent West und erinnerte mich damit noch einmal an meine Rolle. Er drehte den passenden Schlüssel im Schloss, zog die Tür auf und schob mich hinein.

„Hi", sagte ich und biss mir auf die Zunge. Direkt der erste Fehler. Ethan hatte sich kurz vor seinem Verschwinden angewöhnt, immer lässig „Hey" zu sagen oder auch einfach nur ganz männlich zu nicken.

Aber die Frau war zu geschockt, um diesen Fehler zu bemerken. Sie fuhr hoch und starrte mich an. Zum ersten Mal konnte ich ihr Gesicht sehen. Sie war noch so jung, jünger als ich. Und ihre großen, verquollenen Augen starrten mich an, als wäre ich ein Gespenst. Gut, für sie war ich das eben auch. Ein Geist, von den Toten zurückgekehrt, der sie heimsuchte. „Oh Gott", murmelte sie geschockt.

Was würde Ethan in dieser Situation tun? Ich entschied mich für ein dünnes Lächeln, obwohl ich mich dafür schämte, diese Frau so zu verängstigen. Aber sie würde sich gleich wieder beruhigen können, sobald der Test vorbei war. Im Moment wurde sie noch gebraucht.

Die Frau zuckte zurück, als ich einen kleinen Schritt auf sie zu machte, und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. „Das kann nicht sein!" Sie schüttelte den Kopf, krallte sich die Finger in die Haare. Ungläubig. „Du bist tot!"

„Offensichtlich nicht." Ich überraschte mich selbst damit, wie leicht mir diese Bemerkung über die Lippen gekommen war, wie perfekt – eine sehr gute Mischung aus Belustigung und Kälte. Eine Bemerkung wie aus dem Mund eines echten Gangsters. Nicht übermütig werden, ermahnte mich meine vernünftige innere Stimme sofort. Das hier ist ja auch nur eine Art Laborsituation. Ja, das stimmte. Der Feldversuch würde aussagekräftiger sein. Aber eins nach dem anderen.

„Aber, aber ich", stammelte die Frau. „Ich habe dich erschossen!"

Ich würde an dieser Stelle erwidern: „Nein, du hast mich nicht erschossen, sondern auf mich geschossen – sonst wäre ich ja jetzt tot. Das ist ein sprachlicher Unterschied." Aber Ethan würde vermutlich grinsend erwidern: „Du hättest besser zielen müssen." Es war grausam, so mit dieser Frau zu spielen, und obwohl ich immer noch nicht akzeptieren wollte, dass Ethan ein... böser Mensch gewesen war, glaubte ich doch, dass er in dieser Situation, gegenüber einer Frau, die auf ihn geschossen hatte, rücksichtslos sein könnte. Deshalb gab ich seine Antwort. Erneut mit Bravour, weil ich nicht unter Druck stand, weil ich hier sicher war und weil ich wusste, dass ich jederzeit abbrechen konnte.

Was ich dann auch tat, als die Frau sich erneut die Haare raufte, aber diesmal so heftig, als wollte sie damit die Halluzination eines auferstandenen Toten aus ihrem Kopf vertreiben, und als sie mir damit Angst machte, sie könnte sich verletzen. „Beruhigen Sie sich", sagte ich zu ihr, ohne ihr nahe zu kommen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. „Keine Angst, ich bin nicht Ethan." Sie blickte auf, vorsichtig und verwirrt. „Der Mann, den Sie erschossen haben, ist und bleibt tot." Erst als ich ihr eine letzte, weitere Information gab, beruhigte sie sich ein wenig: „Ich bin nur sein Zwillingsbruder." Sie starrte mich immer noch an und sie hatte auch immer noch Angst. Aber es war nicht mehr so schlimm wie gerade eben. Sie glaubte mir also. Damit war die Sache doch erledigt, oder?

Ich entschuldigte mich noch dafür, sie so erschreckt zu haben, fasste mich dabei aber knapp, weil mit dem Aufgeben von Ethans Rolle auch meine Zweifel und Bedenken über ihre Verantwortung für seinen Tod zurückkehrten. Dann trat ich zurück auf den Gang, wo Agent West gewartet hatte. „Und?", fragte ich ihn.

Er wiegte den Kopf. „Ja, das war gar nicht schlecht", meinte er, während er die Zellentür verschloss. „Du hast auf jeden Fall gezeigt, dass unser Plan funktionieren kann." Er steckte den Schlüsselbund wieder ein, dann sah er mich an. Und lächelte. „Ich denke, ich kann dich jetzt in die Realität entlassen."

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt