Kapitel 20

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„Das ist doch nicht dein Ernst!"

„Doch, mein voller Ernst."

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Du hast nicht wirklich Wer die Nachtigall stört nur bis Seite 182 gelesen."

Melissa schmunzelte. Belustigt erwiderte sie: „Ich versichere dir, dass ich genau das getan habe." Ihre dunklen Augen blitzten im Licht der nächsten Straßenlaterne, aber nicht verärgert über unsere Diskussion, sondern fröhlich – dieses kleine Geplänkel machte ihr also offenbar Spaß.

Mir ehrlich gesagt auch. Eine Diskussion über Bücher und Literatur zu führen war etwas, was ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr getan hatte. Gut, in Wirklichkeit hatte ich bis jetzt bloß ein paar Tage darauf verzichten müssen, aber diese kurze Zeit hatte schon gereicht, um mich solche Gesprächsthemen vermissen zu lassen. Gesprächsthemen, bei denen ich mich wohl und heimisch fühlte, bei denen ich tatsächlich eine Ahnung hatte und das nicht nur vorgab. Bei denen ich mich nicht verstellen musste.

Ja, ich durfte nicht vergessen, dass ich gerade immer noch Ethan war und deshalb nicht zu offensichtlich zeigen durfte, dass ich nicht mit sechzehn die Schule abgebrochen hatte und nun eigentlich amerikanische Literatur studierte. Aber ein bisschen literarisches Interesse zu offenbaren würde wohl kaum einen großen Schaden anrichten, vor allem nicht vor Melissa, die mich heute sowieso schon von einer für Ethan untypischen, verletzlichen und sichtbar emotionalen Seite gesehen hatte und auch diesen... Ausrutscher darauf zu schieben schien, dass ich mich ihr bewusst öffnete, um ihr zu zeigen, dass ich sie mochte und ihr vertraute, und nicht darauf, dass ich eigentlich bloß eine Rolle spielte und mich in ihrer Gegenwart etwas zu sicher fühlte, sodass ich Fehler machte.

Aber nein: Ein bisschen über Bücher zu diskutieren, die jeder kennen sollte, der hier in den USA zur Schule gegangen war, hielt ich nicht für einen Fehler. Ja, weil du Freude daran hast. Aber dass du etwas nicht für einen Fehler hältst, heißt nicht, dass es keiner ist, Lucas. Das stimmte, zugegebenermaßen.

Und deswegen würde ich ja auch weiterhin vorsichtig sein und, bevor wir zu tief in die Materie drangen, das Thema wechseln. Doch zuerst musste ich noch etwas loswerden: „Dieses Buch ist nicht ohne Grund ein Standardwerk für den Englischunterricht. Es hat eine große historische Relevanz. So etwas kann man nicht kurz nach der Hälfte abbrechen."

Melissa grinste und zuckte mit den Schultern. „Ich konnte es." Sie lachte auf und hakte sich bei mir unter. Die Tatsache, dass ich auf einmal ihren schmalen Arm so nah an mir spürte, nahm mich so sehr in Anspruch, dass ihre nächsten Worte mit einer kleinen Verzögerung in mein Bewusstsein drangen. „Ja, natürlich ist es relevant, aber ich fand einfach nicht, dass es besonders gut geschrieben war. Oder realistisch. So denkt doch kein neunjähriges Mädchen."

Okay, diese Begründung konnte ich akzeptieren. Wenn sie sich an solchen Aspekten störte, dann war ihre Abneigung gegenüber Wer die Nachtigall stört vermutlich nicht auf eine generelle Ablehnung von Literatur zurückzuführen. Das war auf jeden Fall gut zu wissen. „Welche Schullektüre hat dir denn mehr zugesagt?" So etwas würde Ethan bestimmt nicht fragen, Lucas. Ja, vielleicht. Aber Melissa hatte meinen Bruder nicht gut genug kennen gelernt, um Verdacht zu schöpfen.

Sie überlegte kurz. „Fahrenheit 451", antwortete sie schließlich. „Das habe ich tatsächlich sogar mehrmals gelesen."

„Ich auch", sagte ich, ohne darüber nachzudenken, ob ich das sagen sollte. Es war zwar die Wahrheit, aber eben keine, die zu meiner Rolle passte. Doch sie war jetzt draußen und konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Ich ärgerte mich nicht einmal darüber – ich war im Moment einfach zu glücklich darüber, eine Gemeinsamkeit gefunden zu haben. „Das war eine Zeit lang mein Lieblingsbuch." Vorsichtig, Lucas.

Becoming HimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt