Kapitel 3

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„Ist das Ihr Bruder?"

Stumm starrte ich auf das Gesicht, das ich seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte – und gleichzeitig doch jeden Tag, im Spiegel. Die gleiche Nase – nur dass sie ein bisschen stärker gekrümmt war und so aussah, als wäre sie schon einmal gebrochen worden. Oder auch mehrmals. Das gleiche schmale Kinn – nur nicht glatt rasiert, sondern mit einem Dreitagebart. Wenn seine Augen geöffnet wären, wären sie grau wie meine. Der größte Unterschied war wohl die Narbe an der Schläfe, die ich nicht kannte. Und natürlich die Tatsache, dass Ethans Gesicht reglos und tot war.

Und dass ich neben dem Obduktionstisch stand, am Leben war und schluckte.

Der Gerichtsmediziner wiederholte seine unsinnige Frage. „Ist das Ihr Bruder?" Nein? Das ist irgendein Typ, der ganz zufällig fast genauso aussieht wie ich?

Ich hielt es zwar für ziemlich offensichtlich, dass wir Zwillinge waren, aber ich wusste, dass ich vorhin in der Uni schon genug Fehler gemacht hatte. Jetzt konnte es nur noch darum gehen, mich so normal wie möglich zu verhalten und den Schaden, den ich vorhin angerichtet hatte, zu begrenzen. Mich nicht noch verdächtiger zu machen.

Was bedeutete, den Gerichtsmediziner nicht anzuschnauzen. Und die Tränen laufen zu lassen.

Ich konnte keine Wunde an Ethan entdecken, aber ich sah auch nur sein Gesicht und seine rechte Hand, denn der Rest seines Körpers lag unter einem Tuch. Aber die Polizisten hatten mir ja gesagt, was passiert war. Erschossen. Er war erschossen worden.

Wo wurde denn ein Zwanzigjähriger einfach so erschossen? Und was, wenn es nicht einfach so gewesen war? In welche Probleme war er hineingeraten, dass er sich mit Menschen angelegt hatte, die ihn erschießen würden für... Ja, wofür? Warum war er tot? Wieso? Wie konnte er jetzt tot sein, nachdem er abgehauen war und sich jahrelang nicht gemeldet hatte? Wie konnte er auf diese Weise zu mir zurückkommen?

Auf einem Obduktionstisch, einem verdammten Obduktionstisch!

„Mr Carter", drängte Captain Wayne, der zusammen mit Lieutenant Scott hinter mir stand und genauso wie der Gerichtsmediziner immer noch auf eine Antwort wartete. „Ist das Ihr Bruder Ethan?"

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen, bevor ich nickte. „Ja", murmelte ich. „Das ist Ethan." Diese Identifizierung war eine absurde, lächerliche Formalität. Aber sie gab mir auch die Chance, meinen Bruder wenigstens noch einmal zu sehen. Bevor ich seit fast fünf Jahren zum ersten Mal wieder etwas für ihn tun würde: eine Beerdigung organisieren. Gott.

„Gut. Dann wäre das jetzt ja erledigt", meinte Lieutenant Scott, der offenbar ganz versessen darauf war, mich zu vernehmen, und bereits ungeduldig wurde. Vielleicht war ihm auch der Leichengeruch hier unten zu unangenehm.

Der Gerichtsmediziner warf Captain Wayne einen fragenden Blick zu. Wie dieser reagierte, sah ich nicht, aber vermutlich nickte er, denn der Gerichtsmediziner zog mit seinem Einverständnis das Tuch, das Ethans Körper bedeckte, auch noch über seinen Kopf.

Eine Hand legte sich an meinen Arm. „Wir haben noch einige Fragen an Sie, Mr Carter", meinte der Captain. „Kommen Sie bitte mit uns." Seine Hand machte mir nur allzu klar, dass das keine richtige Bitte war, weil er mich im Notfall mitschleppen würde. Immerhin hielten sie mich für irgendwie verdächtig.

Langsam wandte ich mich vom Obduktionstisch ab und beschloss, trotz besseren Wissens die Aufforderung des Captains als Bitte zu behandeln und seine Hand nicht abzuschütteln. Kein aggressives Verhalten, das war jetzt wichtig. Das sollte ich eigentlich hinbekommen. Darin war ich normalerweise sehr gut.

Schweigend folgte ich Captain Wayne zurück ins Erdgeschoss der Polizeistation und in einen kleinen Raum mit einem Tisch, drei im grauen Boden verankerten Stühlen, einem Aufnahmegerät und einer verspiegelten Glasscheibe hinein. Lieutenant Scott schloss die Tür hinter uns. „Setzen Sie sich, Mr Carter", wies der Captain mich an und deutete auf den einzelnen Stuhl, welcher der Glasscheibe zugewandt war. Damit, wer auch immer hinter dieser Scheibe zusah, die Reaktionen des Verdächtigen beobachten konnte. Damit dieser Jemand meine Reaktionen beobachten konnte. Wayne und Scott ließen sich auf den Stühlen mir gegenüber nieder.

Becoming HimWhere stories live. Discover now