Kapitel 19

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Die Musik war wunderschön, obwohl es nicht die Art von Musik war, die ich normalerweise hörte – ehrlich gesagt war ich ein Mensch, der generell kaum Musik hörte. Ja, vielleicht mal eine Playlist mit ruhigem Pop zum Lernen, wenn mich die Stille in meiner Wohnung nervte, aber eher selten einfach nur so.

Ethan war der Musikliebhaber von uns beiden gewesen. Er hatte damals bei Tante Em immer so lange Musik nahezu jeden Genres mit maximaler Lautstärke gehört, bis sie ihn zum dritten Mal dazu aufforderte, die Musik abzustellen. Anscheinend hatte er auch bis zu seinem Tod immer noch Gitarre gespielt – sonst würde das Instrument schließlich nicht griff- und spielbereit in seinem Wohnzimmer stehen.

Ja, ich hatte auch mal Klavier gespielt, aber das war lange her. Trotzdem erkannte ich, dass dieses Streichquartett gut war. Und im Nachhinein würde ich es sicher bereuen, dass ich es nicht geschafft hatte, mich mehr auf das Konzert zu konzentrieren. Aber das war eben nicht so einfach, da meine Gedanken und Blicke immer wieder zu der Frau neben mir wanderten.

Melissa sah immer gut aus und zwar in allem, vermutlich sogar in Jogginghose. Doch in dem Kleid, das sie heute trug, sah sie wirklich besonders schön aus. Es war ein Sommerkleid, das vielleicht ein wenig zu luftig für die momentane Temperatur war, aber dessen fließender Stoff ihre Figur auf eine unaufdringlich vorteilhafte Weise umschmeichelte. Die Farbe war ein warmes, sanftes Orange, welches sehr gut zu ihrem Teint und auch zu ihren dunklen, halb hochgesteckten Locken passte, die im gedimmten Deckenlicht schwach glänzten. Geschminkt war sie wie üblich dezent, aber ihr Gesicht war auch ohne viel Puder und anderen Kram schön und ebenmäßig.

Vorhin, vor dem Beginn des Konzerts, als wir uns unsere Plätze gesucht hatten, war mir nicht entgangen, dass sich einige der anderen Konzertgäste nach ihr umgedreht hatten. Nur um festzustellen, dass sie bereits eine Begleitung hatte. Mich. Es war irgendwie immer noch kaum zu glauben, dass ich zusammen mit dieser wunderschönen, selbstbewussten Frau dieses Konzert besuchte. Allein der Gedanke erschien mir absurd. Vielleicht war er das auch, vielleicht war ich vor Übermüdung eingeschlafen und bloß in einem schönen Traum gelandet, aus dem ich allzu bald wieder aufwachen würde.

Aber im Grunde spielte es überhaupt keine Rolle, ob ich das hier träumte oder nicht. Denn ich würde in jedem Fall jeden Moment davon genießen. Ja, dann fang mal an damit und konzentrier dich endlich auf die Musik. Ich atmete tief durch und als Melissa mir daraufhin einen leicht fragenden Blick zuwarf, schenkte ich ihr ein Keine-Sorge-Alles-In-Ordnung-Lächeln, das sie direkt beruhigt erwiderte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Streichquartett und ich entschied, es ihr gleichzutun. Das Konzert neigte sich nämlich bereits langsam dem Ende zu und laut der Anzahl der Stücke im Programm waren wir nun beim letzten Stück dieses Abends angekommen.

Wenigstens das könntest du dir jetzt mal wirklich bewusst anhören, Lucas. Ja ja. Das war ja auch mein Plan.

Wenige Augenblicke nachdem die Musiker wieder zu spielen begonnen hatten, bemerkte ich, dass ich unbewusst angefangen hatte, den Kopf schwach im Rhythmus der Musik zu bewegen. Irgendwie kam mir dieses Stück sehr bekannt vor, ich hatte es schon mindestens einmal gehört, wusste aber nicht gleich, wo. Es gab nicht sonderlich viele Möglichkeiten: entweder als Hintergrund von irgendeiner Werbung oder einem Film oder bei...

Ich erstarrte, als es mir wieder einfiel. Zur Sicherheit warf ich noch einen prüfenden Blick ins Programm. Doch, das war es. Eine kleine Nachtmusik. Von Mozart. Das war es, das war das Stück, das die Musiker gerade spielten. Und gleichzeitig war es das Lieblingsstück meiner Mutter. Gewesen. Sie hatte dieses Stück geliebt, hatte es ständig gehört, meistens nach einem harten Arbeitstag, an dem sie irgendetwas genervt oder frustriert hatte und nach dem sie sich irgendwie aufmuntern musste – an solchen Tagen dieses Stück laufen zu lassen war fast schon eine Art Ritual für sie gewesen. Mum und Ethan, die beiden waren die Musikliebhaber unserer Familie gewesen.

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