Prolog - Anais

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Wer sie erblickte, erstarrte in verzücktem Staunen und wer ihre Stimme vernahm, entrückte dieser Welt. Sie war von geradezu überirdischer Anmut und so lieblich, wie der kühle Morgen nach einer sternenklaren Vollmondnacht, wie das erste zarte golden durchzogene Rot des Himmels, das der Welt die Hoffnung auf einen friedvollen Tag spendet und das Herz weit werden lässt. Ihre Berührung, so sanft wie ein Windhauch, schien jeden Schmerz zu heilen und hinterließ doch ein leises drängendes Brennen, eine Sehnsucht nach mehr.

Doch kein dunkles, lüsternes Verlangen war es, welches sie in den Gedanken derer erweckte, die sie berührte. Es war wie ein zärtliches Flüstern der Seele, die sich sodann aufschwang in ungeahnte Höhen, um dort im Licht der ewigen Erinnerung zu schwelgen.

Sie hatte die Gabe Liebe, Frieden und Hoffnung in die Herzen derer zu bringen, die ihrer gewahr wurden. Und doch war sie dazu verdammt, die eine Liebe, der ihr Herz gehörte, auf ewig zu vermissen. Nichts würde ihr die liebevolle Nähe und Vertrautheit des Einen ersetzen können, dem sie vor Jahrhunderten ihre Seele geschenkt und der die seine für sie geopfert und den Weg der Schatten beschritten hatte, um ihr den Weg ins Licht zu ermöglichen.

Bittere Tränen rannen stumm über ihr engelsgleiches Gesicht und bildeten Seen in ihren tiefblauen Augen, in denen er sich verloren hatte, wenn sie sich innig liebten. Sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können und in seinen Armen zu sterben, seine Lippen auf ihren, verbunden im letzten Kuss. Den Tod auf diese Weise zu umarmen, schien ihr gnädig und verlockend. Doch er hatte sie nicht gehen lassen wollen und damit den Pakt besiegelt, der sie nun auf ewig in verschiedenen Welten voneinander trennte.

Das Böse tötete nicht, es entzweite und ergötzte sich am Schmerz der Liebenden, wenn diese verstanden, dass es kein Zurück gab. Es breitete einen dunklen Schleier über die Seelen der Lebenden und erstickte sie fast bis zur Besinnungslosigkeit, nur um dann wieder gerade genug Luft zuzulassen, um das Leben nicht auszuhauchen. Eine endlose quälende Spirale aus Angst um den Geliebten und Grauen vor dem, was er geworden war aus Liebe zu ihr.

Ihre seidigen schwarzen Locken wehten im Wind, wie ein Leichentuch, das nach ihr griff und sie umhüllte, als sie auf dem Gipfel des Berges Inrith stand und auf das verbrannte Land sah, in dem irgendwo der Mann verborgen war, den sie mehr liebte als ihr Leben. Nur ein Schritt und sie wäre dort, hätte die Schattengrenze überwunden und würde ihn suchen und finden, doch nicht lebend, sondern verwelkt, gedrängt in die Schatten von Morlith, dem Land der ewigen Nacht. Sie erinnerte sich an die Worte des dunklen Herrn, als dieser den Pakt vorschlagen hatte.

Kalt lächelnd hatte er geraunt:

„Du kannst sie retten, Merandil. Komm mit mir und wache an meiner Seite über die Dunkelheit. Solange du bei mir bist, wird Anais leben und in Melith über das Licht wachen. Schatten und Licht...so war es schon immer. Das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Doch sollte sie in die Dunkelheit gehen, um dich zu suchen, so wirst du qualvoll verenden. Und solltest du es wagen, die Grenze ins Licht zu überschreiten, so wird sie durch dich verbrennen. Was sagst du, Merandil? Entscheide dich schnell! Viel Leben ist nicht mehr in ihr."

Die Erinnerung war so lebendig, als wäre es eben erst geschehen und nicht bereits vor hunderten von Jahren. Seit diesem Tag hatte sie sich am Fuße des Berges niedergelassen und stieg jeden Morgen auf den Gipfel, um nach ihm zu suchen und wusste doch, dass sie es nicht konnte. Sie konnte ihn nicht sterben lassen, so wie er es nicht mit ihr vermocht hatte. Es waren jener letzte Blick seiner kristallblauen Augen und der verzweifelte Kuss gewesen, die sie nun angstvoll davon abhielten, sich nach Morlith zu wagen. Wenn sie die Augen schloss, konnte Anais noch immer seine Lippen, die sie nicht hatten gehen lassen wollen und sich letztendlich genau deshalb von ihr entfernt hatten, auf den ihren spüren. Die letzte zärtliche Berührung und das stumme Versprechen, alles für sie zu geben, hinderten sie trotz aller Pein daran, den letzten Schritt zu gehen und dieser Welt für immer zu entfliehen.

Anais schrie ihren Schmerz in den Wind und dieser trug ihn weit hinaus in die Dunkelheit von Morlith.

Ob Merandil sie hören konnte? Wo war er? Was war aus ihm geworden?

Sie brach zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wer hätte ahnen können, dass sie jemals auf diese Weise getrennt werden würden? Dabei hatte alles angefangen wie in einem Traum...                

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt