Der Quell der Harmonie

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Anais hatte die fremde Präsenz schon vor einigen Stunden gespürt und ihren Geist darauf konzentriert. Die Seele des Fremden war in Aufruhr, verwirrt und voller Zweifel, aber sie strahlte auch wie der helle Tag. Ein stummer Kampf musste in ihm stattfinden. Sie war gespannt darauf, ihn endlich zu sehen.

Ein Jeder der zu ihr kam, wurde von ihr mit Wohlwollen und Güte behandelt, denn jeder, der den Weg auf sich nahm, suchte nach Harmonie in sich oder der Weisheit, sie anderen teil werden zu lassen. Und sie, als die Hüterin der Quelle Aranils, schenkte ihnen diesen Frieden auf die eine oder andere Art. Aber noch nie war ihr das Lächeln so leicht gefallen, wie in diesem Augenblick.

Der Fremde wirkte so mild und gütig und sah sie mit einem solchen Entzücken an, dass sie auch innerlich schmunzeln musste.

„Tritt näher", sagte sie mit einer einladenden Geste. „Du musst müde sein von der langen Reise. Setz' dich zu mir und erzähle mir, was dich hierherführt."

Merandil durchfuhr ein wohliger Schauer, als er ihre süße Stimme vernahm. Er trat vollends aus dem Schatten der Bäume und umrundete langsam den kleinen Teich. Anais hatte sich auf einem Stein an dessen Rand niedergelassen und deutete neben sich. Zögernd ließ sich Merandil nieder und war darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen. Das wäre sicherlich sehr unschicklich und er wollte sie nicht verärgern oder in Bedrängnis bringen.

Sie lächelte verschmitzt und sagte:

„Ich glaube, halb auf der Kante sitzt es sich nicht so bequem. Komm ruhig ein Stückchen näher. Ich werde nicht beißen."

Merandil errötete und schaute schnell zu Boden, rutschte aber langsam näher an sie heran.

„So ist es schon besser", sagte sie zufrieden. „Man sollte sein Gegenüber spüren, wenn man miteinander redet."

Sie berührte sanft seine Hand und ein leichtes Prickeln breitete sich in seinem Körper aus. Fast hätte er aufgestöhnt, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

„Was also führt dich zu mir?", fragte Anais.

Merandil sah sie an und versank in ihren Augen, die wie tiefblaue Seen in die seinen blickten.

„Ich habe seit vielen Monden sehr realistische Alpträume, die manchmal sogar am Tage in mich fahren und mich martern", sagte er.

„Träume entspringen oft unseren Seelen und wenn diese verängstigt sind, suchen sie mittels reinigender Bilder, dieser Angst Herr zu werden. Hast du einen Grund, dich vor etwas zu fürchten?", fragte Anais ihn.

„Eigentlich nicht. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und fühlte mich bisher auch im Einklang mit mir. Deshalb verwirrt es mich auch so sehr. Ich weiß nicht woher diese Träume rühren", antwortete er.

„Nun, wir werden es schon ergründen und ich bin mir sicher, du wirst mit Frieden im Herzen diesen Ort wieder verlassen, wenn es soweit ist", beschied ihm Anais mit einer Zuversicht, die ihn nicht daran zweifeln ließ, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen.

„Lass uns ein Stück spazieren gehen! Das entspannt und öffnet den Geist", forderte sie ihn auf. „Darf ich erfahren wie du heißt? Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Da wäre es von Nutzen, wenn ich dich beim Namen nennen könnte", fragte sie ihn sanft.

„Oh, wie unhöflich von mir. Bitte verzeiht, das ist sonst nicht meine Art. Ich heiße Merandil", sagte er verlegen.

Die Magie dieses Ortes, nein, die Magie, welche von ihr ausging, hatte ihn alle guten Manieren vergessen lassen.

„Sehr erfreut, Merandil. Ich heiße Anais", erwiderte sie mit einem Lächeln, welches ihn dahinschmelzen ließ.

Sie wandelten über einen Teppich aus Gras und Blumen, der ihre Schritte dämpfte, sodass sie lautlos dahinglitten. Schweigend gingen sie Seite an Seite und Merandil genoss ihre Nähe, ihren Duft und den Anblick, den sie bot. So zart und zerbrechlich und doch so stark und voller Zuversicht. Er wünschte sich, sein Gesicht in ihren dichten schwarzen Haaren zu versenken und seine Arme um sie zu legen. So vertraut kam sie ihm vor, als hätte er sie schon ein Leben lang gekannt.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now