Die Traumreisen

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Die Welt war zu einer kleinen Blase geschrumpft, in der Anais durch Raum und Zeit reiste. Sie trieb lautlos schwebend dahin und sah von Zeit zu Zeit ein Licht aufblitzen, welches den Blick auf eine Landschaft, ein Gesicht oder einen Raum freigab. All dies geschah in Bruchteilen von Sekunden und doch fühlte sich Anais, als sei sie bereits seit Jahren unterwegs zu einem Ziel, welches sie nur vor ihrem inneren Auge sah.

Die Bilder, die zwischendurch wie kleine Erinnerungsblitze vor ihr auftauchten, säumten den Pfad zu diesem Ort. Kaleas melodische Stimme drang in regelmäßigen Abständen an ihr Ohr und navigierte sie durch die unendlichen Weiten des Traumstromes, auf dem Anais schwerelos dahinglitt.

Nachdem sie unter der Anleitung der Traummagierin tagelang meditiert hatte und tief in sich gegangen war, hatte sie die erste Traumreise unternommen. Sie war lediglich von dem kleinen Haus, in dem sie ihre Lehrstunden erhielt, bis zu der Lichtung am Flussufer, wo sie erwacht und Kalea das erste Mal begegnet war, gereist. Doch es hatte sich als weitaus schwieriger herausgestellt als erwartet.

Anders als in normalen Träumen, war sie nicht ständig von Bildern umgeben. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, wo sie sich befand. Lediglich das Bild vor ihrem inneren Auge konnte sie leiten. Verlor sie es, so fing sie an zu taumeln und drohte in die bodenlose Tiefe zu stürzen, die sich unter ihr ausbreitete.

Einige Male berührte Kaleas Geist sie sanft und brachte sie zurück auf den richtigen Weg. Und als Anais das Flussufer endlich erreicht hatte, war sie völlig erschöpft. Verwundert nahm sie die Landschaft wahr, die durch ihre Traumblase sonderbar verändert wirkte. Alles schillerte in sanften Pastelltönen und bewegte sich wie in Zeitlupe. Anais fühlte sich benommen wie in einem Rausch und es kostete sie unglaubliche Mühen, sich wieder in das Haus Kaleas zurück zu denken und ihren Geist in den dort wartenden Körper zurückgleiten zu lassen. Sie atmete schwer und ihr Herz raste, doch Kalea sah sie mild lächelnd an und nickte ihr aufmunternd zu.

„Das war gar nicht schlecht für den Anfang. Beim nächsten Mal werde ich dich nur noch begleiten, ohne in deine Gedanken einzugreifen. Den Rückweg hast du bereits ganz alleine gefunden", sagte sie anerkennend.

„Warum habe ich alles in veränderten Farben und viel langsamer gesehen, als es eigentlich sein sollte?", fragte Anais matt.

„Das ist am Anfang ganz normal. Wenn du erst einmal ein paar Reisen unternommen hast, wirst du alles so wahrnehmen, wie es tatsächlich ist", beruhigte Kalea sie.

Von nun an hatte sie ihren Körper jeden Tag ein bis zweimal verlassen und sich durch den Fluss der Träume an immer entferntere Orte treiben lassen. Sie war im Geist den Strand entlanggelaufen, hatte sich zu den Bergen der Orodben geträumt und war sogar im Hause Merandils gewesen und hatte sanft über das Bett gestrichen, in dem sie sich das letzte Mal geliebt hatten, bevor er ihr entrissen worden war.

Doch als sie Kalea darum bat, sich zu Merandil hinzuträumen, wehrte diese ab und sagte, dass es dazu noch zu früh wäre. Auch auf ihren Wunsch, zu ihrer verstorbenen Mutter zu reisen, reagierte sie mit sanfter Zurückweisung.

„Zu Seelen im Jenseits zu reisen ist äußerst gefährlich, mein Kind", ermahnte sie Anais eindringlich. „Der Weg dorthin ist dir nicht bekannt und die Sphären, in denen sie weilen, sind nicht für die Lebenden bestimmt. Die Gefahr, dass dein Geist deinen Körper nicht mehr wiederfinden würde, ist einfach zu groß."

„Wie kommt es dann, dass die Geister der von uns Gegangenen zu uns gelangen können, so wie Anduriel zu mir?", wollte Anais wissen.

Kalea betrachtete sie schweigend und lächelte dann verschmitzt.

„Du hinterfragst alles, nicht wahr? Gut so. Dann wirst du dich nie leichtfertig zu etwas hinreißen lassen, das jemand oder etwas dir einzuflüstern gedenkt. Die Seelen der Toten wandeln ständig zwischen den Welten, solange sie mit dem Diesseits noch nicht abgeschlossen haben. Doch sie müssen auch nicht zurück in ihre Körper finden. Du hingegen solltest auf den deinen acht geben, denn du wirst nicht sterben und deine Seele vollends von deiner weltlichen Hülle trennen, wenn du den Weg zurück nicht mehr findest. Nein, du wirst stattdessen in der Dunkelheit herumirren und jenseits der Grenzen der Zeit für immer dort verweilen."

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt