Die Lehren Kaleas

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Die Stute, die auf den Namen Moereth, was so viel bedeutete wie ‚die Sanfte', hörte, war Anais' Wesen so ähnlich, dass sie schon nach kurzer Zeit förmlich miteinander verschmolzen waren. Sie beide waren sanftmütig, stark und unnachgiebig. Und so kämpften sie sich unermüdlich durch endlos scheinende Steppen, über Geröllfelder und Hügelländer, durch Wälder und über Berge und schwammen sogar durch einen reißenden Fluss, dessen Strömung sie bis an den Rand ihrer Kräfte brachte. Wenn der Weg zu beschwerlich wurde, stieg Anais ab und führte ihr Pferd am Zügel hinter sich her. Die Stute dankte es ihr, indem sie wie der Wind dahinflog, wenn das Gelände dies zuließ.

Des nachts suchten sie Schutz unter ausladenden Bäumen, in Höhlen oder großen Erdlöchern. Sie schmiegten sich aneinander und spendeten sich Wärme und Geborgenheit. Immer wieder prüfte Anais anhand des Standes der Sonne und der Nachtgestirne, ob sie in die richtige Richtung unterwegs waren. Manchmal kam es ihr so vor, als ob Moereth den Weg nach Süden instinktiv verfolgte und es keiner Karte und keiner Kontrolle durch sie bedurft hätte.

„Kannst du das Meer spüren?", fragte sie die Stute eines Tages und diese scharrte mit den Hufen und nickte schnaubend.

„Dann lauf, meine Schöne! Bring mich zu Kalea! Ich vertraue dir."

Die Ausmaße von Melith raubten Anais den Atem. Früher hatte sie ihre Wälder mit den Seen, Quellen, Wiesen und dicht mit Bäumen bestandenen Weiten für riesig gehalten, doch mittlerweile wusste sie, dass diese nur einen winzigen Teil des Reiches ausmachten. Und es war unglaublich schön, wild und ursprünglich. Sie fühlte die Magie, wie ein feines Netz, das sich im Boden ausbreitete und in jeden Grashalm, in jedes Sandkorn, in jeden Tropfen Wasser, einfach in jedes noch so winzige Teilchen der Natur floss und es zum Strahlen brachte.

‚Und das kommt alles von meiner Quelle', dachte sie ehrfurchtsvoll.

Dass die Magie von dort aus ins Land floss, hatte sie gewusst. Aber welche Wege sie dabei zurücklegte und wie präsent sie so weit entfernt von der Quelle noch war, das hätte sie sich niemals träumen lassen. Nun sah sie ihre Aufgabe als Quellhüterin in einem ganz anderen Licht.

Sie atmete erleichtert auf. Anscheinend war trotz ihrer langen Abwesenheit nichts Schlimmes dort geschehen, aber sie würde schnellstmöglich in die Wälder Aranils zurückkehren und dort nach dem Rechten schauen, damit die Magie ungestört weiter ihren Zauber wirken konnte und diese wunderbaren Landschaften in ihrem Glanz erstrahlen lassen würde.

Anais' feine Nase nahm die Gerüche ihrer Umwelt mit kindlichem Staunen wahr. Sie schwelgte in Erinnerungen, wenn diese denen ihrer Heimat ähnelten und sie nahm die Bilder, welche mit den Düften kamen, tief in sich auf und verwahrte sie dort wie einen Schatz, wann immer sie ihr unbekannt waren. So konnte sie schon bald mit geschlossenen Augen, nur anhand der Aromen, welche die Luft erfüllten, erkennen, wie die Landschaft um sie herum aussah.

Aber dann kam der Tag, an dem ein neuer würziger Duft in tiefen Atemzügen in sie drang. Er war so salzig, dass sie ihn auf der Zunge schmecken konnte. Und er war voller fremdem Leben, welches sich in ihm tummelte.

Auch Moereth witterte es. Sie hob ihre Nüstern hoch in den auffrischenden Wind und wieherte laut. Dann machte sie einen Satz und sprengte der Quelle des Geruchs entgegen. Jetzt hörte Anais auch ein kehliges Kreischen hoch über sich. Sie blickte zum Himmel empor und sah große weiße Vögel mit schwarz geränderten Flügeln auf den Schwingen des Windes dahingleiten. Vor ihr türmten sich hellsandige Dünen auf, die mit hohen schilfartigen Gräsern bewachsen waren. Und als sie auf dem Kamm der Dünen angelangt waren, zügelte Anais ihre Stute und blickte über das Panorama, welches sich vor ihr ausbreitete.

Anais sah das Meer zum ersten Mal in ihrem Leben und sie war überwältigt. Das Tosen, der sich am Strand brechenden Wellen, wetteiferte mit dem Rauschen des Windes und zusammen verbanden sie sich zu einer Melodie, die eine Sehnsucht in ihr erweckte. Wasser so weit ihr Blick reichte. Es verschmolz mit dem Horizont zu einem schleierhaften Blaugrau. Doch dort, wo die hellen Strahlen der hochstehenden Sonne die Wellen berührten, schimmerten sie wie Gold.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now