Die Bestimmung

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Der Fürst hatte sie mit den Worten entlassen:

„Ich nehme an, dass ihr euch alle erst einmal von dem Gehörten erholen möchtet. Das ist sicher nicht leicht für euch. Und ich denke, das geht am besten in vertrauter Atmosphäre. Also, Elomir, geh nach Hause. Und Merandil, führe auch du deine Frau in dein Haus. Ich bin mir sicher, dass ihr um eure Verantwortung wisst und ich euch morgen noch dort antreffen werde."

Er hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie in den nächsten Tagen und Wochen in der Waffenkunst und in Magiebeherrschung ausgebildet werden würden, um dem Feind wohl gewappnet entgegenzutreten. Landorielle war in einer uralten Chronik des Lichtelfenvolkes auf den Versiegelungszauber für magische Tore gestoßen und Lyberion, der oberste Magier und Mitglied des hohen Rates von Melith, wollte diesen und andere nützliche Zauber mit Merandil und Anais proben.

Elomir hatte bekräftigt, dass er unbedingt mit zum Inrith kommen wolle und Merandil hatte nach Leibeskräften versucht, ihm dies auszureden.

„Wer wird die Werkstatt fortführen, wenn Adahidh einmal nicht mehr ist?", hatte er gefragt und versucht, an Elomirs Ehrgefühl zu appellieren.

Aber dieser war so davon besessen, an der Seite seiner Freunde zu kämpfen, dass Merandil es irgendwann aufgegeben hatte. Er würde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen, ihn umzustimmen.

Zum Schluss hatte Adahidh Merandil und Anais noch einmal lange umarmt und dann Abschied für die Nacht genommen. Anais war sichtlich gerührt gewesen. Jetzt war sie ein Mitglied einer kleinen Familie und herzlich in ihr aufgenommen worden. Sie vermisste ihre Mutter, an die sie seit Langem nicht mehr so intensiv gedacht hatte.

Warum hatte Shanaria ihr die Wahrheit verschwiegen? Hatte sie sie vielleicht nur schützen wollen? Aber, wenn es zur Lebensaufgabe der Lichtelfen gehörte, die Dunkelheit jenseits der Grenzen von Melith zu binden, dann konnte sie sich dem nicht entziehen.

Sie verspürte Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, doch sie fürchtete noch viel mehr, was kommen mochte, wenn sie den Zauber, der die Grenze aufrechterhielt, nicht beherrschen lernen würde.

War sie stark genug, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein?

Und dann dachte sie an Merandil, den es noch viel unvorbereiteter getroffen hatte. Sein ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Zwar eine, um ihn zu schützen, aber wovor genau? Was hatte Anduriel dazu getrieben, ihn in die Hände Adahidhs zu übergeben und einfach zu verschwinden? War sie vielleicht noch am Leben und könnte ihnen Antworten auf all diese Fragen geben?

Ihre beiden Mütter mussten sich gekannt haben. Hatten sie vielleicht gemeinsam beschlossen, ihren Kindern eine andere Zukunft zu ermöglichen und ihnen deshalb ihre wahre Natur verschwiegen? Aber wie gedachten sie dann die Schattengrenze zu schützen? Sie mussten doch gewusst haben, dass diese ohne ihre Magie nicht ewig fortbestehen konnte. Fragen über Fragen, auf die Anais keine Antworten fand.

Merandil war ungewöhnlich still. Er führte Anais durch die Straßen von Shanduril und sie schaute sich gedankenversunken um. Die Stadt war schön und außergewöhnlich gelegen. Besonders das Panorama der weißen Lamara-Berge, welche sich rund um die Stadt erhoben, beeindruckte sie und gab ihr das Gefühl, winzig klein zu sein. Nur ein unbedeutend kleiner Teil dieser großen Welt.

Welche Ironie! Alle Hoffnungen ruhten auf Merandil und ihr und gerade jetzt fühlte sie sich unbedeutend.

'Die Magie liegt in den kleinen Dingen', hallte es in ihrem Kopf wider.

Es war einfach, dass zu sagen, so viel einfacher, als daran zu glauben, wenn es um sie selbst ging.

Nach einer Weile sagte Merandil:

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt