Epilog - Die Liebenden

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Die Harmonie des Waldes war vollkommen. Der Wind wisperte in den uralten Wipfeln der Baumriesen, welche die jungen Schösslinge, die in ihrem Schatten gesprossen waren, behüteten und sie vor allzu harschen Stürmen beschützten, sodass sie gemächlich gedeihen konnten.

Hunderte Vogelstimmen schwebten, einer Symphonie gleich, zwischen dem dichten Geäst. Hier und dort streifte Wild friedlich zwischen den Stämmen umher und äste auf den kleinen Lichtungen, die sich wie grüne Inseln, übersät mit Blüten in allen nur erdenklichen Farbschattierungen, zwischen den sanften Schatten des dichten Waldes erhoben. Lichtdurchflutet und erfüllt von einem tiefen Frieden, bot sich ihr Bild dar.

Scharen von Schmetterlingen erhoben sich von niedrigen Sträuchern und strebten mit leisem Flügelschlag dem Licht entgegen. Zu den idyllischen Bildern gesellte sich der betörende Duft tausender Blumen, frischen Harzes, warmen Holzes, feuchter fruchtbarer Erde, aromatischen Waldkräutern und reifen Beeren.

Leise plätschernd schlängelte sich ein Bach durch diese grüne Welt, der gemächlich über glänzende Steine floss und in dem sich kleine goldene und silberne Fische tummelten. Das Leben feierte ein Fest und lud dazu ein, in den frohen Reigen einzustimmen. Eine süße Melancholie lag über diesem Ort, die sowohl zu Tränen rührte, als auch zum Lächeln geriet.

Inmitten all dieser Pracht saß Anais gedankenversunken auf einem großen flachen Stein am Rande der Quelle Aranils und summte mit geschlossenen Augen eine alte Weise. Sie verschmolz mit ihrer Umgebung und gab sich ganz dem Zauber der Natur hin. Ihre Finger glitten durch das kühle Wasser und liebkosten es zärtlich. Sie spürte, wie sie die Magie der Quelle durchdrang und ihr Zuversicht und Kraft spendete. Ein leises Lächeln umspielte ihre Züge und sie legte, immer noch mit geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken, um die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Dabei umfloss sie ihr schimmerndes Haar, wie die Wellen eines tiefen Sees, dessen Grund man nur erahnen konnte.

Lange verharrte sie so und genoss das Gefühl, eins mit sich und der Natur zu sein. Bis sie das drängende Bedürfnis durchfuhr, die Augen zu öffnen und sich umzudrehen. Eine Präsenz hinter ihr hatte die Aura des Ortes verändert, sie mit einem Mal noch reicher und tiefer gemacht.

Zuerst konnte sie sich nicht erklären was es war, dass diese Veränderung herbeigeführt hatte. Doch dann trat eine Gestalt hinter einem mächtigen Baumstamm hervor und lächelte ihr entgegen. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Wie in Zeitlupe erhob sie sich und ging der Gestalt entgegen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, so unglaublich war das, was sie dort sah.

„Hattest du wieder Alpträume", fragte sie zitternd und so leise, dass sie Angst hatte, die Gestalt könnte sie nicht gehört haben.

„Nein, ich habe keine Alpträume mehr. Nur unglaubliche Sehnsucht nach dir", antwortete diese.

Anais schluchzte noch einmal laut auf und warf sich dann in die Arme ihres Gegenübers.

„Merandil, mein Liebster, wie ist das möglich? Du bist doch...", stotterte sie und schmiegte sich noch fester an ihn.

Seine Wärme durchdrang sie und ließ sie jeden Schmerz vergessen. Er küsste zärtlich ihre Haare und liebkoste ihre Wangen mit seinen Fingerspitzen, ganz sanft und vorsichtig, als ob er fürchtete, sie zu zerbrechen.

„Ich bin durchs Feuer gegangen und den Flammen geläutert entstiegen. Dein Bild hat mich auf dem Weg durch die Lohen geführt und meinen Geist auf das Wichtigste konzentriert...auf meine Liebe zu dir. Ich bin nicht mehr, was ich war. Ich ging mit der Gewissheit, dich für immer zu verlieren, doch auch in dem Bewusstsein, dir ein Leben in Freiheit und im Licht zu ermöglichen. Im Jenseits angekommen, trauerte ich um uns, aber ich bereute meine Entscheidung nicht ein einziges Mal, denn ich sah, dass ich Recht gehabt hatte, sah dich in deinem neuen Leben und wusste, dass du es zu schätzen wissen würdest. Im Kreise meiner Ahnen angekommen, fand ich mich allmählich damit ab. Doch sie sagten, dass meine Aufgabe noch nicht erfüllt wäre. Sie erschufen meinen Körper aufs Neue und sendeten meinen Geist zurück, damit wir eine Familie gründen und das Volk der Lichtelfen in eine neue Zeit führen können."

Merandils Worte, dicht an ihrem Ohr gesprochen, drangen tief in sie ein und sie spürte deren Wahrheit. Mit der ihr innewohnenden Magie suchte sie jeden Winkel seiner Seele nach dunklen Flecken ab, doch da waren nur Licht und Wärme.

Ganz vorsichtig löste er sich aus ihrer Umarmung und schob sie so weit von sich, dass er ihr in die Augen schauen konnte.

„Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt, in all den dunklen Stunden. Hast du mich auch vermisst?"

Anais sah ihn unendlich liebevoll an und erwiderte:

„In jeder Sekunde, mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug."

 Als sich ihre Lippen fanden durchflutete beide ein süßer Taumel, der sie davonschweben ließ. Das weiche Gras umfing sie, als sie nieder glitten und miteinander verschmolzen. Die Zeit blieb stehen, die Geräusche um sie herum verstummten. Sie nahmen nichts mehr wahr, außer ihren Berührungen, ihrem Geruch und ihren Bewegungen, die völlig im Einklang miteinander waren.

Ihre Körper und Seelen vereinten sich und tanzten eng umschlungen im Rhythmus ihrer sich überschlagenden Atmung, bis sie einem ganzen Universum explodierender Sterne gewahr wurden, die auseinander stoben und in warmen Wellen wohlige Schauer durch sie sandten.

Allen Widrigkeiten zum Trotz, hatten sie das Lichtreich gerettet und die Schatten vernichtet. Nun verneigte sich das Universum dafür vor ihnen und beschenkte sie mit dem Wertvollsten, das sie sich beide wünschen konnten. Es war ein Versprechen, an das beide glaubten. Nichts und niemand würde sie je wieder entzweien...Anais und Merandil, die Liebenden. 

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now