Die Schattenflut

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Dimion stand zum wiederholten Mal der Schweiß auf der Stirn und seine Sinne waren zum Platzen angespannt. Er hatte sich wieder und wieder Merandils Kraft bedienen müssen, um die Unzahl von Schattenkriegern der Verwandlung zu unterziehen. Mittlerweile lagerten fast alle von ihnen am Fuße des Inrith auf der Seite von Melith. Ihr Heer war Tag um Tag angewachsen und das Lager breitete sich in Richtung der toten Wälder aus, wie sie das baumbestandene Gebiet nannten, welches sich an die kahle Ebene unterhalb des Inrith anschloss.

Er hatte nur noch eine handvoll Verwandlungen zu tätigen, dann endlich wäre seine Streitmacht vollständig und er könnte sie gen Shanduril ziehen lassen. Also sammelte Dimion noch einmal all seine Kraft und konzentrierte sich auf sein erklärtes Ziel, die Unterwerfung des Lichtreiches.

Er dachte an all die Schauergeschichten, die er seinem Sohn aufgetischt hatte, um weiterhin seiner Magie mächtig zu werden. Wüsste dieser um Dimions tatsächlichen Zustand, um dessen beginnende Schwäche, die nur die mutierte Lichtelfenmagie auszugleichen vermochte, so hätte er sich ihm wieder verschlossen. Der Dunkle merkte bei jedem Griff nach der Magie seines Sprösslings, dass dieser sich innerlich wand und ihm den Zugriff verwehren wollte. Da die Angst um seine Liebste jedoch so groß war, ließ er ihn gewähren und spielte ihm kleine Brocken seiner Macht zu. Gerade genug, um immer eine Hundertschaft seiner Schattenkrieger zu entzaubern, sie durch den Schattenquell zu schicken und dann wieder zurück zu verwandeln. Aber das Ritual verlangte Dimion trotz allem alles an Kraft ab, sodass er am Ende nach Luft ringend auf dem felsigen Boden der Grotte lag und sein Körper vor Anstrengung unkontrolliert zuckte.

Er war froh, dass niemand ihn so zu Gesicht bekam. Welchen Eindruck hätten seine Untergebenen sonst von ihm bekommen? Zu Merandil ging er erst wieder, wenn sich sein Zustand gebessert hatte und er wieder kraftvoll und überlegen wirkte. Dimion fragte sich, wie viel Magie Merandil noch in sich trug. Äußerlich wirkte dieser ausgezehrt und kraftlos, aber bei jeder Berührung spürte er immense magische Ströme, die tief unter der Haut des Elfen pulsierten.

Wenn sich sein Sohn ihm doch nur vollends öffnen und es zulassen würde, dass sie miteinander verschmolzen, so wie er mit seinen Schatten verschmolzen war. Anfangs war das Gefühl fremd und bedrohlich gewesen, aber schon nach kurzer Zeit hatte Dimion seine Erfüllung in der Symbiose mit den Schatten gefunden. Sie waren ihm näher als jedes Individuum zuvor und sie verurteilten ihn nicht, sondern füllten die Leere, die er stets gefühlt hatte, mit etwas, das Liebe gleichkam. Es war eine Art Abhängigkeit voneinander, die ihn schmerzte, aber ihm auch Frieden schenkte. Genau das fühlte Dimion auch, wenn er in Merandils Nähe war. Der Gedanke daran, dass er ihm nie wirklich vertrauen würde, wie es zwischen Vater und Sohn sein sollte, versetzte Dimion immer wieder einen Stich ins Herz, welches anscheinend noch nicht vollkommen aus Stein war. Und doch suchte er seine Nähe so oft es ging. Etwas Vertrautes ging von ihm aus, etwas, dass sich der Dunkle nicht erklären konnte, das ihn aber warm und wohlig umspülte.

Der Junge war stark, stolz und voller Ideale, die er jedoch alle opferte, um Anais in Sicherheit zu wissen. Er musste sie wirklich über alles lieben. Dimion beneidete ihn darum. Hätte er Anduriel gegenüber dieselbe unerschütterliche Liebe empfunden und nicht die unsichere, zweifelzerfressene, welche er in sich gespürt hatte, so wären sie vielleicht eine glückliche Familie geworden. Warum hatte er diesen Schritt nicht gewagt?

‚Weil ich schwach war und mich deshalb hinter der Fassade des Zorns und der Grausamkeit versteckt habe', gestand er sich innerlich ein.

Es hatte keinen Sinn, weiter darüber zu brüten und sich zu bemitleiden. Die Entscheidungen, die er getroffen hatte, hatten seinen weiteren Weg vorbestimmt und dieser würde seine Krieger gegen die Elfen führen, deren Vorfahren ihn gedemütigt hatten. Und auch gegen den Einen, den er bis heute nicht einzuordnen wusste. Dimion sah ihn in allen Einzelheiten vor sich. Sein mildes Lächeln, seine sanfte Art, seine Grazie. Er würde ihm schon bald in Form seines vertrautesten Schattens gegenüberstehen. Was würde er dann tun? Die Frage beschäftigte Dimion seit Jahrtausenden und noch immer hatte er keine Antwort darauf gefunden.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now