Ein Tag für die Ewigkeit

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Die Sonne schien hell in ihr kleines Schlafgemach unterm Grasdach und kitzelte Anais und Merandil im Gesicht. Fast gemeinsam schlugen sie die Augen auf und begrüßten den herrlichen Tag mit einem verliebten Blick in die Augen des Anderen.

Die letzten Tage und Nächte waren wie im Flug vergangen. Kein böses Omen und kein Ungemach hatten seither nach Merandil gegriffen, um sich seiner zu bemächtigen. Nach der Nacht im Wald hatte Merandil sich gesorgt, dass er durch die Provokation des Alptraums wieder in die alte Spirale aus Zweifel und Unwohlsein zurückfallen könnte. Doch trotz aller Befürchtungen war ein weiterer Alptraum ausgeblieben und Anais überschüttete ihn förmlich mit Positivismus, Liebe und der Magie der Natur.

Mittlerweile war er gut einen Monat bei ihr und konnte sich gar nicht mehr vorstellen, irgendwo anders ohne sie zu sein. Er hatte einen stummen Entschluss gefasst und wollte diesen heute in die Tat umsetzen.

„Was denkst du, Anais, siehst du mich als 'geheilt' an?", fragte er sie ernst.

„Ja. Du wirkst vollkommen gefestigt in dir", antwortete sie aufrichtig und küsste ihn sanft.

„Was passiert, wenn jemand mit einem Problem zu dir kommt und dieses überwunden hat?", fragte er weiter.

„Nun, normaler Weise bedankt er sich und geht", entgegnete Anais und starrte ihn mit aufkeimender Furcht an.

„Dann denke ich, dass Merandil, der Fragende und Gleichgewichtsuchende nun Abschied nehmen sollte", verkündete er ganz ruhig.

Anais stiegen Tränen in die Augen.

„Du willst mich verlassen?"

Merandil küsste ihre Hände und sah ihr tief in die Augen.

„Vertrau mir", sagte er nur knapp und erhob sich von ihrem Lager aus Moos. „Begleitest du mich noch bis zur Quelle, wo wir uns das erste Mal sahen?", fragte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Anais konnte kaum denken, aber sie war die Hüterin der Quelle und der Anstand gebot dies. Also nickte sie stumm, nahm die ihr dargebotene Hand und zog sich daran auf die Füße, die unter ihr nachzugeben drohten.

Stumm schritten sie durch den Wald, bis zu der Stelle, an der sie sich vor nicht allzu langer Zeit begegnet waren. Am Rande der Quelle hielt Merandil inne und musterte Anais, die es nicht wagte, ihn direkt anzusehen.

„Bitte, vertrau mir, Anais", flüsterte er noch einmal und löste sich dann von ihr. „Du hast mir Frieden gegeben und mehr als ich je zu hoffen gewagt habe. Ich bin kein Suchender mehr", sagte er sanft, aber mit fester Stimme. „Nun muss ich den letzten Schritt gehen und meine Reise beenden."

Anais' Lippen bebten und sie hatte nicht die Kraft, ihn anzusehen.

„Leb wohl", hauchte sie nur kaum hörbar.

Dann verschwand Merandil zwischen den hohen Stämmen der Baumriesen und Anais verharrte wie betäubt genau an der Stelle, wo er sie verlassen hatte.

Hatte sie sich so in ihm getäuscht? War sie naiv gewesen, zu glauben, dass er bei ihr bleiben würde? Was wäre auch seine Zukunft hier? Das hatte sie nie bedacht. Sie wollte es nicht wahrhaben und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Gedanken.

Warum hatte er gesagt 'vertrau mir'?

Nach einigen Minuten überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden und sie blickte angestrengt in die Richtung, in die Merandil entschwunden war. Da, hinter dem Stamm der großen Eiche, an der sie ihn das erste Mal erspäht hatte, lugten ein Paar kristallblaue Augen und ein dunkler Haarschopf hervor.

Anais legte die Stirn in Falten und fragte unsicher:

„Merandil?"

Dieser trat hinter dem Baum hervor und sagte:

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now