Die Offenbarung

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Die Wolken zogen über den Himmel. Sie brachten Regen, Hagel und Schnee. Stürme wälzten sich über das karge Land und beraubten die Bäume ihrer wenigen verbliebenen Blätter, bis sie bleich und nackt wie Gerippe aus dem Boden stachen. Alles verfaulte und verging.

Die siebenundsechzig flachen Hügelgräber mahnten stumm und eindringlich. Sie zeugten auch nach all den Jahren noch von der Ungeheuerlichkeit, die hier geschehen war. Allein dort wo Anais weilte, war das Gras noch grün und blühten vereinzelt kleine weiße Sternblumen. Ihre Anwesenheit hauchte der sterbenden Natur immer wieder etwas Leben ein.

Sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, aber an den Wechseln der Jahreszeiten konnte sie erkennen, dass bereits viele Jahre ins Land gestrichen sein mussten, seit Merandil verschwunden war.

Irgendwann hatte sie damit begonnen, ihre Magie in regelmäßigen Abständen automatisch in Richtung der Grenze fließen zu lassen. Sie nahm es kaum noch wahr. Nur ein einziges Mal, als ihr ein besonders großer Riss begegnete, hatte sie kurz überlegt, ob sie vielleicht durch diesen unbemerkt nach Morlith gelangen könnte. Doch sie hatte den Gedanken schnell wieder verworfen, da sie nicht wusste, wie sie Merandil befreien sollte, ohne ihm zu schaden.

Anais hatte Suchzauber gewirkt, um ihn aufzuspüren, aber keine Verbindung zu ihm aufbauen können. Ihr Herz war bang. Lag es wirklich an der magischen Grenze, oder daran, dass er zu weit entfernt war? Oder schirmte der Dunkle Herr ihn vor ihrem Geist ab? Wenn er mühelos in diesen eindringen konnte, so vermochte er gewiss auch Zugänge zu blockieren. Oder, und das war ihre schlimmste Befürchtung, sie konnte ihn nicht erreichen, weil er nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Jeden Tag stieg sie auf den Gipfel des Berges und schaute über das wüste Land, welches sich dahinter erstreckte. War dies die Wirklichkeit, oder nur eine Illusion? Nichts bewegte sich dort, ganz so, als ob sie auf ein Bild starrte und nicht auf eine lebendige Landschaft. Oder gab es dort einfach kein Leben und ihr Auge reichte nicht so weit, wie es notwendig gewesen wäre, um ihren Geliebten zu erspähen?

Sie dachte an ihre Quelle und ihre Aufgabe dort, aber sie hatte auch hier einen Auftrag zu erfüllen. Manchmal wünschte sie sich, dass jemand sie von ihren Qualen erlösen würde und einige Male hatte sie sich selbst dabei ertappt, wie sie nach einem spitzen Stein getastet und diesen über ihre Pulsadern gleiten lassen hatte. Doch jedes Mal war Merandils Gesicht, welches sie ermahnte die Hoffnung nicht aufzugeben, vor ihrem inneren Auge erschienen. Er sollte sich nicht für sie geopfert haben, nur damit sie jetzt in Selbstmitleid und Lebensüberdruss versank und das zeitliche freiwillig segnen würde.

Außerdem erinnerte sie sich an die Worte Landorielles:

„Nur durch die Magie der Lichtelfen kann Melith von Morlith getrennt und in Sicherheit sein und so brauchen wir die letzten Beiden derer."

Nun war sie die Letzte und es würde auch keinen Nachwuchs geben, der ihr Erbe antreten konnte. Dieser Gedanke durchfuhr sie wie ein Blitz und wütete in ihrer Seele. Gleichzeitig beflügelte er ihre Zuversicht, dass es irgendeinen Weg geben musste, Merandil wieder zurückzuholen. Die Lichtelfen konnten nicht mit ihrem Tod, wann immer dieser sie auch ereilen sollte, einfach verschwinden. Das durfte nicht sein!

Wenn sie doch nur ein Lebenszeichen von Merandil erhalten würde, ganz egal wie winzig es auch sein mochte. Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Und so glitt sie in einen unruhigen Schlaf.


Die Grenzen zwischen Traum und Realität begannen zu verschwimmen und sie schwebte hoch über dem Land und stieg höher und höher, bis sie die Wolkendecke durchbrach und die Sonnenstrahlen ihr Gesicht aufleuchten ließen. Anais sog die frische kühle Luft gierig in ihre Lungen. Sie schloss die Augen und verweilte einzig in diesem Moment. All die Last und der Kummer, die sie gebeugt hielten, fielen von ihr ab und sie fühlte sich frei. Doch dann spürte Anais etwas, dass sie seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt hatte...eine andere Präsenz, die hell und gütig war und sich ihr wohlwollend näherte.

„Verzage nicht, Anais. Merandil ist stark und ich bin bei ihm in all seinen Prüfungen. Der Einfluss des Dunklen schwächt ihn, aber die Erinnerung an dich hält ihn am Leben. Du bist sein Licht in der Dunkelheit, die ihn umgibt."

Anais öffnete die Augen und sah eine engelsgleiche, gleißend helle Frauengestalt mit langen braunen Haaren und meergrünen Augen vor sich schweben. Diese lächelte sie an und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ich träume nur", sagte Anais leise.

„Ja, aber Träume können dich leiten und dir Trost spenden. Ich bin hier, um genau das zu tun. Du verzweifelst an der Ungewissheit, ob dein Liebster noch lebt. Sei gewiss, das tut er und auch er sucht einen Weg zu dir. Doch für ihn ist es ungleich schwerer als für dich, denn er trägt eine Bürde, die ich ihm auferlegt habe. Ich tat es im Glauben an eine bessere Welt, doch machte die Rechnung ohne den, der ihn nun gefangen hält. Ich war blind und gutgläubig und trage allein die Schuld daran."

Die Gestalt sah nun unendlich traurig aus.

„Wer bist du?", fragte Anais.

Die Lichtgestalt sah sie liebevoll an und antwortete:

„Die Mutter deines Liebsten."

Anais stockte der Atem.

„Anduriel...", flüsterte sie.

Diese nickte und strich Anais über die Wange.

„Ich wünschte, ich hätte dich noch im Leben kennengelernt, aber ich verließ diese Welt bevor du geboren wurdest. Ich hätte mir keine bessere Schwiegertochter wünschen können. Du hast meinen Sohn sehr glücklich gemacht."

Anais musste gleichzeitig lächeln und weinen.

„Hast du Shanaria gekannt?"

Sie sah Anduriel erwartungsvoll an.

„Wir waren uns sehr vertraut, fast wie Schwestern. Wir suchten beide nach einer Möglichkeit, das große Sterben der Lichtelfen zu beenden und ersannen einen Plan. Ich versuchte, das Herz Dimions zu gewinnen und ihn daran zu erinnern, wer er einst war. Er verfiel mir, so dachte ich zumindest und ich gebar seinen Sohn. Doch er hatte mich getäuscht und trachtete mir nach dem Leben. Er sah in unserem Kind nichts weiter als eine Quelle der Macht. Deshalb floh ich mit ihm soweit ich konnte und gab ihn in die Hände eines Elfen, der gutmütig, herzlich und völlig unbedarft war, was Magie anging. Ich dachte, ihn so schützen zu können. Dann kehrte ich zu Dimion zurück und versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass es wirklich eine andere Zukunft geben könne. Aber er wollte nichts davon wissen und fragte nur immer wieder wohin ich unser Kind gebracht hatte. Ich behielt Stillschweigen darüber, egal was er mir androhte und letztendlich auch antat. Doch irgendwann fand er ihn...und dich", schloss Anduriel ihre Erzählung.

„Wer ist Dimion?", wollte Anais wissen.

„Du kennst ihn wahrscheinlich unter dem Namen ‚der dunkle Herr'."

Erstaunen und blanker Horror vermischten sich in Anais' Gesichtszügen.

„Merandil ist der Sohn des Herrn über Morlith?"

Deswegen hatte er ihn hierher gelockt.

Das Bild Anduriels verblasste langsam und ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern:

„Halte an deiner Hoffnung fest...du wirst einen Weg finden!"


Anais schrak aus ihrem Traum auf und all ihre Sinne waren geschärft. Die Taubheit, welche sie seit langem gespürt hatte, war plötzlich verflogen. Sie sah klar und alles ergab Sinn, auch wenn dieser ihr nicht gefiel.

Der dunkle Herr brauchte Merandil und anscheinend brauchte er ihn lebend, denn ansonsten hätte er sich längst seiner Kräfte bemächtigt und die leere Hülle seines Sohnes den Schatten, die ihm dienten, zum Fraß vorgeworfen. Doch er widersetzte sich.

Anais hatte keine Zweifel daran, dass der Traum, den sie soeben erlebt hatte, eine Vorsehung des Schicksals gewesen war. Anduriels Geist war ihr erschienen, um sie davon abzuhalten, sich unbedacht etwas anzutun. Sie würde die Prüfung bestehen. Und auch, wenn sie noch nicht wusste, wie der Weg zur Rettung ihres Geliebten aussehen sollte, so wusste sie Eines ganz gewiss...sie würde nicht eher ruhen, bis sie wieder vereint waren.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now