Der geliebte Feind

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Die Traummagierin wurde langsam unruhig. Anais war schon sehr lange fort. Ihr Körper war noch warm, aber Kalea beschlich das Gefühl, dass ihre Schülerin dabei war, einen fatalen Fehler zu begehen. Sie konnte sie jenseits der magischen Grenze, die Morlith umgab, nicht mehr erreichen.

Besorgt richtete sie ihren Blick auf Anais' körperliche Hülle und hoffte, sie möge sich irren und die kleine Lichtelfe würde jeden Augenblick wieder in sie zurückkehren.


Mit jedem Schritt in Richtung der Festung schlug Anais' Herz schneller. Wo waren eigentlich die Horden von Schattenkriegern, von denen Merandil ihr berichtet hatte?

‚Bitte, lass sie nicht bereits in Melith eingefallen sein', betete sie inständig.

Sie vernahm lauten Flügelschlag über sich und schaute gebannt nach oben. Drei riesige gelb-gräuliche Drachen zogen ihre Kreise über ihr.

‚Ich dachte, sie seien alle tot', sagte sie in Gedanken zu sich selbst.

Was hatte der dunkle Herr noch für Kreaturen um sich geschart?

Anais war blindlings losgelaufen, ohne einen richtigen Plan zu haben. Wie sollte sie den Finsteren besiegen? Sie erinnerte sich an Feuerzauber und Blendzauber, sie konnte Winde beschwören und Schutzschilde erschaffen, aber wahrscheinlich würde nichts davon Dimion töten können. Sie würde sich eine Zeit lang gegen ihn wehren können und vielleicht fand sie eine Waffe, die sie gegen ihn führen könnte. Jedoch konnte sie all dies nicht in ihrer Geistergestalt. Anais würde ihren Körper brauchen, um die Zauber zu wirken und erst recht, um ein Schwert oder eine Lanze zu halten.

"Tritt nicht in die Welt dort über!", hörte sie Kalea wieder mahnend sagen.

‚Früher oder später werde ich es tun müssen. Also warum nicht heute?', dachte sie bitter. ‚Wenigstens werde ich keine Schwierigkeiten haben, in die Festung zu gelangen. Ich trete einfach durch die Wände wie ein Geist.' 

Vor den schwarzen Mauern angelangt, streckte sie ihre Hand aus, um zu sehen, ob es wirklich so funktionierte, wie sie es sich gedacht hatte. Tatsächlich glitt ihre Hand mühelos durch den Stein und Anais' restlicher Traumseelenkörper folgte beherzt.  

Im Inneren der Feste war die Luft erfüllt von huschenden Schatten, die sich so dicht beieinander drängten, dass es aussah als läge ein undurchdringbarer Rauchteppich zwischen Boden und Decke. Die Schatten flüsterten miteinander. Und obwohl Anais die Worte nicht verstand, hörte sie eine Unsicherheit heraus. Sie waren verwirrt und einige sogar verängstigt. Anais fühlte sich unwohl inmitten des wogenden dunklen Meeres aus formlosen Schattenauren.  

Ob sie ihre Anwesenheit spürten? Immerhin waren sie sich in diesem Moment ähnlicher denn je...körperlose Seelen in Aufruhr.  

Ihre Geistersinne führten sie tief hinein in ein Labyrinth aus dunklen, nur an wenigen Stellen beleuchteten Gängen. Konnten die Schatten in ihren Geist außerhalb des Körpers eindringen, wenn sie die schützende Traumblasenhaut abstreifen würde? Würden sie oder Dimion sich ihrer bemächtigen, bevor sie ihren Körper nachholen und den Schutzzauber gegen deren Einflüsterungen sprechen könnte?

Sie war töricht, das wusste sie. Allein gegen eine ganze Feste voll beseelter Schatten und ihren Herrn, den sie noch nicht einmal gesehen hatte. Vielleicht würde sie ihn gar nicht erkennen?  

Die Schwingungen wurden jetzt beinahe unerträglich. Sie schmerzten in ihren Gedanken und betäubten ihre Sinne. Anais musste all ihre Kraft aufbringen, um sich auf ihren eigenen Geist zu konzentrieren und all die anderen Auren und Emotionen soweit auszublenden, dass sie wieder zu Bewusstsein kam. Da sah sie ein massives Schwert aus dunkel glänzendem Stahl zu ihren Füßen liegen. Sie wollte es intuitiv aufheben, doch ihre Hände glitten einfach hindurch.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now