Das letzte Licht

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Sie wusste, dass Kalea Recht hatte. Es würde keinen Weg zurück geben, ohne ihren Liebsten. Entweder würde sie ihn befreien und Dimion besiegen, oder in den Schatten sterben. Das wurde ihr schmerzlich bewusst, als Anais durch Raum und Zeit trieb und ihren Geist Meile um Meile weiter von ihrem Körper entfernte.

Kalea hatte ihr geraten, sich nicht auf Merandil zu konzentrieren, sondern ihren Geist einfach fließen zu lassen, auf dass er sie an einen Ort in Morlith trüge, der weit entfernt von Dimion und ihm war.

„Wenn man sich sehr auf Veränderungen von Schwingungen konzentriert, vermag man den Eintritt eines Traumreisenden in die Welt zu spüren, selbst wenn dieser in seiner Hülle verharrt und ein stummer Beobachter bleibt", hatte sie gesagt.

Da sie beide damit rechneten, dass Dimion auf der Hut war und seine Sinne nach ihr ausstreckte, erschien es am weisesten, so weit wie möglich entfernt von ihm in Morlith zu erscheinen. Anais würde ihren Liebsten von jedem Ort aus finden. Dessen war sie sich sicher. Und so sorgte sie sich nicht darum, wohin es sie verschlagen würde.

Doch als das matt fluoreszierende Dunkel, durch welches sie reiste, sich langsam auflöste und sie mit einem kurzen Aufleuchten in die Welt von Morlith katapultierte, staunte sie dennoch. Das stetige Zwielicht drang durch Reihen knorriger Bäume, deren welkendes Laub leise im Wind raschelte.

Wälder passten nicht zu Anais' Vorstellung vom Reich der Schatten. Obgleich sie bereits beim ersten Mal zwischen Bäumen erschienen war, versetzte sie dieser Anblick ins Grübeln, denn auch wenn dieser kleine Wald im Sterben lag, spürte sie, dass er einst voller Leben gewesen war. Was mochten die Bäume alles gesehen haben? Hatte es lichte Tage in diesem Landstrich gegeben, bevor er den Schatten anheim gefallen war? Vielleicht war es noch nicht zu spät und sie könnte den Verfall stoppen und das Land wieder zum Leben erwecken.

Sie sandte ihre Sinne aus und versicherte sich, dass der dunkle Herr nicht in der Nähe war. Anais nahm seine Schwingungen nicht war, dafür aber die unzähliger Schatten, die sich ihr von allen Seiten zu nähern schienen und sie regelrecht umzingelten. Wie war das möglich? Sie war doch so vorsichtig gewesen. Spürten sie die Anwesenheit jedes Geistes, egal in welcher Gestalt?

Ein Flüstern erfüllte die Luft und Anais wurde von Panik erfasst. In dieser Form konnte sie nicht zaubern und sich somit nicht vor den Stimmen verschließen. Doch sie schienen nicht in sie dringen zu wollen. Nein, sie sprachen miteinander!

Zu ihrem Entsetzen sah Anais, wie sich direkt über ihr eine bizarre pechschwarze Kreatur formte, die auf sie hinabzublicken schien. Diese verharrte in der Luft, wenn sie stehen blieb und bewegte sich in ihrem Tempo weiter, sobald Anais voran schritt.

Keine Frage, dieses Wesen hatte sie bemerkt und wich nicht von ihrer Seite. Was sollte sie tun? Würde dieses Ding sie angreifen, oder spionierte es sie aus, um Dimion Bericht zu erstatten? Wenn dem so wäre, müsste sie es zerstören. Der Dunkle durfte nichts von ihrer Anwesenheit erfahren. Sie brauchte das Moment der Überraschung, um ihm beikommen zu können.

Anais war sich sicher, dass sie einen Zusammenschluss unzähliger Schatten über sich hatte. Was konnte sie vernichten? Licht...ein Licht, das so hell war, dass es die Dunkelheit komplett absorbierte!

Sie war ein Licht. Doch wenn sie nun ihren Körper rufen würde, dann könnte sie ihn nicht wieder fortschicken, ohne auch ihren Geist zurückzusenden. Sie hatte es Kalea geschworen. Keine unkalkulierbaren Wagnisse mehr. Aber was blieb ihr anderes übrig? Dimion hatte wahrscheinlich Schatten in jeden Winkel seines Reiches entsendet, um sie aufzuspüren.

Sie konzentrierte sich auf Merandils Geist. War er weit entfernt? So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht spüren. Wie viele dieser Wesen mochten sie auf dem Weg zu Dimion belagern und konnte sie alle verschwinden lassen? Der schwarze Koloss über ihr streckte seine Tentakel nach ihr aus. Sie glitten durch sie hindurch und doch konnte Anais die eisige Kälte spüren, die sie ausstrahlten. Immer wieder griffen die dichten Schwaden nach ihr und versuchten, sie zu umklammern.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt