Die Opfernacht

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Als der letzte Eiskristall zu Boden gefallen war, schwebte Dimions Seele empor. Verwundert blickte er auf die Szene unter sich. Anais lag in Merandils Armen, immer noch bewusstlos, aber lächelnd.

Sein Geist war schon viele Male hoch über den Wolken geflogen, doch stets mit seinen Schatten. Nun jedoch war er frei und fühlte sich so leicht wie eine Feder. Er wehrte sich nicht dagegen. Es war seltsam, körperlos und doch unabhängig zu sein. Aber Dimion fand allmählich Gefallen daran. Schon konnte er das Land unter sich nicht mehr sehen.

Er war widerstandslos durch die dunklen Wolken gebrochen und über diesen erwartete ihn eine untergehende Sonne. Er musste schmunzeln.

‚Wie passend, selbst jetzt, da ich die Sonne wiedersehen darf, ist sie im Begriff zu versinken', dachte er melancholisch.

 Wohin würde seine Seele gehen? Sicher wieder an einen dunklen Ort! Dimion blendete den Gedanken aus und genoss die Stille und das Farbenspiel hoch über den Wolken. Er ließ sich treiben und war erstaunt darüber, dass er nun keinerlei Hass mehr empfand. Schloss man automatisch seinen Frieden mit allem, wenn man dahinschied?

Hinter ihm erhob sich eine warme zarte Stimme, die seinen Namen flüsterte. Langsam wand er sich um und blickte ungläubig auf die schillernde Silhouette der Seele, welcher die Stimme gehörte. Er brachte kein Wort heraus, sondern starrte sie nur an.

„Ich habe lange auf dich gewartet und mit Trauer beobachtet, welchen Weg du eingeschlagen hast. Aber das ist jetzt nicht mehr von Belang. Wir werden an einen Ort gehen, wo jede Vergangenheit ruht und die Zukunft so strahlend ist, wie du sie dir erträumst. Ich habe dich damals nicht angelogen. Ich liebe dich, Dimion! Nichts und niemand kann daran rühren. Und was uns auf Erden nicht vergönnt war, das wird sich an den Ufern jenseits des weltlichen Lebens erfüllen. Komm mit mir und alles wird vergessen und vergeben sein. Ich erlöse dich von deinem Fluch", hauchte Anduriel und umfing den Geist Dimions mit ihrem sanften Schimmern.

Dieser ließ es geschehen und verschmolz mit ihr. Er fühlte eine prickelnde Wärme in sich aufsteigen und konnte nicht anders, als zu lächeln und musste sich eingestehen, dass er nun wahrlich mit allem gesegnet war, was er sein Leben lang so schmerzlich vermisst hatte. Er war frei von Furcht und Zweifeln und wünschte sich nur noch eines...Anduriel nie wieder loszulassen.


Merandil machte einen Schritt ins Licht des Portals, welches Anais erschaffen hatte. Anstatt jedoch hindurch zu dringen, wurde er mit Wucht davon abgestoßen. Er taumelte zurück und starrte entgeistert auf das Tor. Das konnte nicht sein! Warum ließ es ihn nicht passieren?

Er schritt langsam wieder darauf zu und legte Anais behutsam neben sich ab. Vorsichtig streckte er seine rechte Hand dem Licht entgegen. Als der erste Strahl sie berührte, zog er sie schmerzverzerrt schnell wieder zurück. Seine Haut brannte und feine Rauchfäden stiegen von seinen Fingerkuppen auf. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn.

Voller Angst hob er beide Hände und stellte sich vor, wie das Tor in sich zusammenschrumpfen würde, sobald er es seiner Magie befahl. Er ließ sie fließen und betete, dass das Portal schrumpfen möge, doch nichts geschah. Merandil probierte es immer und immer wieder, bis er ein Flüstern in sich vernahm.

„Du kannst kein Lichttor mehr erschaffen und es auch nicht zerstören. Jetzt fließt eine andere Magie durch deine Adern, die unsere", raunten die Schatten.

Merandil wurde schwarz vor Augen. Er hatte das Erbe seines Vaters angetreten und war nun ein Gefangener der Schattengrenze. Seine Knie knickten ein und er sank neben Anais und bettete seinen Kopf auf ihre Brust. Ihr Herz schlug ruhig und sie war warm. Sie war voller Leben und würde sicher bald wieder zu sich kommen. Und dann würde er ihr sagen müssen, dass sie ohne ihn gehen müsste. Stur wie sie nun einmal war, würde sie sich wahrscheinlich dagegen entscheiden und lieber ein Leben an seiner Seite führen, auch wenn dies bedeutete, dass sie es in Dunkelheit fristen müsste.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now