Die Schwelle zur ewigen Nacht

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Die Hufe des stolzen Rappen flogen über den wechselnden Untergrund. Sie hatten die grasbewachsenen Ebenen, die steinigen Anhöhen und Täler hinter sich gelassen, stoben nun über den trockenen Waldboden und wirbelten dabei das welke Laub auf, das wie Pergament unter ihnen zerfiel.

Der Hengst schnaubte und warf den Kopf in den Nacken. Er spürte die Gefahr, die jenseits der Bergkette lauerte, auf die sein Reiter ihn geradewegs zutrieb.

Ein paar leise beruhigende Worte, die dieser dem nervösen Tier zuflüsterte, ließen es seine Furcht ausblenden, sodass es seinen Reiter sicher ans Ziel brachte, ohne zu scheuen. Am Fuße der Berge angekommen sprang der Reiter behände ab und klopfte seinem erschöpften Pferd liebevoll auf den Hals. Er führte es unter die kleine Linde, die erstaunlicherweise im Schatten des hoch aufragenden Gipfels des Inrith gedieh. Dort band er die Zügel an einen der tief hängenden Äste und wandte sich dann dem Felsmassiv zu.

Er sandte seine Gedanken durch das Gestein und hoffte, dass sie auf der anderen Seite ankommen und den gewünschten Empfänger erreichen würden.

„Näher kann ich dir nicht kommen, kleiner Bruder. Verschließ dich meinen Worten nicht und bitte, glaube mir, ich habe nie gewollt, dass es so weit kommt", wisperte er.

 Mandelion war alleine gekommen, um Dimion zur Vernunft zu bringen und den Wahnsinn zu beenden, der aus der Ablehnung ihres Vaters erwachsen war.


Dimion zog seelenruhig seine Kreise um Anais, während er ihr sein Angebot unterbreitete. Sie wand sich verzweifelt und versuchte ihre Hände zu befreien, aber die Schatten hatten sich wie Fesseln um sie gelegt und hielten sie fest.

„Du brauchst mir nur das Tor nach Melith zu öffnen und Merandil wird frei sein und du mit ihm", säuselte der dunkle Herr und lächelte sie unschuldig an.

„Und in was für einer Welt würden wir leben, vorausgesetzt du ließest uns tatsächlich frei? In einer wie dieser, wo alles stirbt und zerfällt und die Tage so dunkel sind wie die Nächte? Glaubst du, wir würden es zulassen, dass du gegen unser Volk in den Krieg ziehst und alles zerstörst, was wir in Jahrtausenden erschaffen, gehegt und gepflegt haben? Ich habe die Veränderung an meiner Quelle gespürt. Die Magie ist vergiftet und lässt die Natur rundherum langsam zugrunde gehen. Willst du das? Willst du wirklich alles Leben unterjochen und deiner verdunkelten Seele gleich machen?", erwiderte Anais zornig.

Dimion blickte sie still an und fuhr ihr dann sanft über die Wange.

„Du bist sogar zornig immer noch voller Güte und wunderschön", sagte er leise und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Anais drehte ihren Kopf angewidert zur Seite. Der dunkle Elf lachte leise auf und zwang sie mit einem derben Griff unter ihr Kinn, ihn wieder anzusehen.

„Ich rate dir, mich nicht herauszufordern. Vielleicht brauchst du auch eine kleine visuelle Entscheidungshilfe. Ich werde dich zu deinem Liebsten bringen und dann kannst du noch einmal über mein Angebot nachdenken", sagte er kalt und zog sie erbarmungslos hinter sich her.


Von Schatten umringt, wie von dunklen Vorhängen, die ihm das letzte bisschen Sicht auf seine Umgebung raubten, kauerte Merandil am Boden und zitterte vor Kälte. Er spürte, dass irgendetwas geschehen würde, denn er war noch nie einer derartigen Bewachung ausgesetzt gewesen. Warum schirmte man ihn so ab? Was sollte er nicht sehen, oder wer sollte ihn nicht sehen?

Hallten dort nicht Schritte aus der Ferne an sein Ohr? Ja, ganz sicher! Und sie stammten von mehr als einer Person. Jemand schleifte jemand anderen hinter sich her und redete leise auf diesen ein.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now