Merandil

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Schweißgebadet und nach Luft ringend schreckte Merandil aus einem unruhigen Schlaf auf. Er fasste sich an die staubtrockene Kehle und tastete panisch daran entlang. Nein, da waren keine Ketten und auch keine blutigen Striemen oder Würgemale, aber wenn er weiter so fantasierte, würde er sich bald selbst erwürgen bei den Versuchen, Ketten zu zerreißen, die nicht da waren.

Seine Träume wurden immer bedrohlicher und realistischer. Drei Tage lang hatte er dem Schlaf widerstanden, aus Angst vor den nächtlichen Schatten, die in seinen Geist einfielen und ihn marterten. Doch letzte Nacht hatte er sich einfach nicht mehr wachhalten können und es erneut bitter bereut.

Seine Hand fuhr zu seinem Gürtel, an dem eine lederne Feldflasche hing. Gierig nahm er einen tiefen Zug und wollte ihn im nächsten Moment am liebsten wieder ausspucken. Was war nur los? Selbst das Wasser schmeckte nach Verwesung, obwohl er es gestern Abend erst aus einem klaren Bach geschöpft hatte. Angewidert schluckte er es dennoch hinunter, um seine trockene Kehle zu besänftigen.

Er fühlte sich, als wäre eine Herde Büffel über ihn hinweggestürmt und hätte keinen Knochen in seinem Leib heil gelassen. Doch äußerlich schien alles in Ordnung zu sein und als er sich stöhnend hochstemmte, gehorchte sein Körper ihm.

Seit er die Reise zur Quelle Aranils begonnen hatte, waren mehr als zwei Monde vergangen, in denen sich sein Zustand zusehends verschlechtert hatte. Anfangs, zu Hause in Obleth, einer kleinen Elfensiedlung in der Nähe der Hauptstadt Shanduril, waren nur ab und an verstörende Bilder des Nachts in ihn gedrungen, die aber schnell wieder verblassten, sobald er das Tageslicht erblickte und seinem Werk nachging. Er hatte niemandem davon erzählt, weil es ihm dumm vorgekommen war, sich zu ängstigen. 

Es waren doch nur Träume, oder?

Doch dann war es schlimmer geworden. Während er an einer Auftragsarbeit für den Fürstenpalast von Shanduril werkelte, einem kunstvoll geschwungenen Tisch, dessen Standfuß zwei Drachen zeigte, die ineinander verschlungen kämpften, hatte er plötzlich angefangen zu halluzinieren.

Die Drachen glühten auf und bewegten sich fauchend umeinander, bis sie schließlich ihre Köpfe in Merandils Richtung drehten und mit weit aufgerissenen Mäulern auf ihn zuschossen. Merandil stand da wie versteinert und blickte entsetzt auf das bizarre Bild, welches sich ihm bot. Sodann fühlte er die scharfen Reißzähne, sich in seine Brust schlagen und eine unglaubliche Hitze durchflutete ihn. Unfähig zu begreifen, was gerade mit ihm geschah, spürte er nichts als brennenden Schmerz, der immer intensiver wurde und ihm die Kehle zuschnürte, sodass die Schreie, die er ausstoßen wollte, für alle außer ihn ungehört allein in seinem Inneren widerhallten.

Er fiel benommen zu Boden und hörte sich panisch überschlagende Stimmen, wie aus weiter Ferne:

„Merandil, was tust du da?"

"Oh,  bei allen Ahnen...!"

"Verdammt nochmal, steht da nicht rum wie angewurzelt! Nehmt ihm das Messer weg!"

Dann versank er in tiefer Finsternis.


Als er die Augen wieder aufschlug, kniete ein Elf mit langem goldenem Haar über ihm. Er schien ganz aus Licht zu sein und seine Lippen bewegten sich, als ob sie zu ihm sprächen, aber Merandil konnte kein Wort verstehen. In seinem Kopf dröhnte es, wie in den Fluten eines gigantischen Wasserfalls. Der Elf presste seine gleißend hellen Hände auf Merandils Brust und beugte sich tief zu ihm hinunter, bis er dicht neben seinem Ohr verharrte.

Erst jetzt konnte er leise verstehen, was der Andere zu ihm sagte:

„Komm zurück ins Licht, mein Freund! Kämpf dagegen an!"

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now