Die Gewölbe der Vergangenheit

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Es war nicht sonderlich schwer gewesen, sich zurück in die Festung zu schleichen. Genau wie bei seinem Ausbruch, war auch bei Merandils Rückkehr keine Wache an der kleinen Pforte gewesen, durch die er entkommen war. Wieder im Inneren angelangt, machte er sich schnell auf den Weg in die Haupthallen, aus denen er seinen Wächtern entwischt war.

Als er die ersten Ansammlungen von Schattenkriegern erreicht hatte, sah er sich betont suchend um und tat so, als ob er sich verirrt hätte. Er nahm absichtlich falsche Wege, die ihn zwar in die Nähe von, jedoch nicht direkt in die geschäftigen Hallen der Feste führten. Sollte ihn einer seiner Wächter oder Dimion selbst so auffinden, konnte er ihnen leicht weismachen, dass er sich verlaufen hätte, was gar nicht so abwegig war, bei all den verzweigten Gängen, die sich stark ähnelten. Erst als er dem Zentrum der Festung so nahe war, dass ihn nur noch zwei Abbiegungen davon trennten, lief er Dimion in die Arme.

„Was machst du hier alleine?", fuhr dieser ihn barsch an.

„Dimion, den Ahnen sei Dank", rief Merandil mit gespielter Erleichterung, „...ich dachte schon, ich würde nie mehr zurückfinden. Auf dem Weg in mein Gemach wurde ich von einer Gruppe streitender Krieger abgelenkt und blieb stehen, um dem Gefecht, welches sich daraus entwickelte, zu folgen. Meine Wachen müssen einfach weiter gelaufen sein, denn als ich meinen Weg fortsetzen wollte, waren sie verschwunden. Ich versuchte, alleine zu meinem Gemach zu gelangen. Doch ich muss irgendwo falsch abgebogen sein und auf einmal hatte ich die Orientierung verloren und irrte ewig umher."

Dimion musterte ihn düster, doch Merandil hielt seinem Blick stand und seine unschuldige Miene aufrecht.

„Du solltest dir den Weg zu deinem Raum gut einprägen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt", sagte der Dunkle scharf.

Dann packte er Merandil unsanft am Arm und zog ihn mit sich.

„Es wird Zeit für einen Beweis deiner Aufrichtigkeit", zischte er. „Ich will, dass wir mit unserer Verschmelzung beginnen. Du sollst verstehen, warum ich der geworden bin, den du heute vor dir siehst. All die Wut und die Schmerzen, welche ich durchlitten habe, werden es dir leichter machen, dich mir zu öffnen. Du bist schon jetzt ein Teil von mir, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Und du wirst dich in mir erkennen, wenn du den Weg durch die Vergangenheit beschritten hast."

Merandil sah ihn verständnislos an, doch Dimion machte sich nicht die Mühe, ihm mehr zu erklären. Stattdessen zog er ihn weiter hinter sich her. Sie gingen abwärts, jedoch nicht in Richtung der Quelle, sondern ihr entgegengesetzt. An einem massiven eisernen Tor, kamen sie endlich zum Stehen.

„Dahinter liegen Erinnerungen an mein früheres Leben, an meinen Aufstieg, meinen Fall und auch an die nahe Vergangenheit. Finde deinen Weg durch die Zeit! Ich werde dich am Ende erwarten", sagte Dimion und ließ die Torflügel mit einer herrischen Geste aufspringen.

Dahinter wand sich eine steile Treppe in die Tiefe. Eine brennende Fackel steckte in einer eisernen Halterung an der Wand aus tiefschwarzem, schroffem Gestein.

„Geh hinunter!", herrschte der dunkle Herr ihn an, als Merandil zögerte.

Er stieß ihn der Treppenflucht entgegen und schlug das Tor hinter ihm zu. Merandil war gefangen. Es blieb ihm nur ein Weg und dieser führte abwärts, tief hinab in die Abgründe der Seele seines Vaters.


Die Treppenstufen wanden sich schier endlos abwärts. Sie waren schlüpfrig und so stark ausgetreten, dass sie an manchen Stellen eher einem steilen Hang als einer Treppe glichen und Merandil auf der Hut sein musste, um nicht auszurutschen und hinunterzustürzen.

Endlich am Fuße der Treppe angekommen, erblickte er einen niedrigen engen Gang, welchen er nur in gebückter Haltung passieren konnte. Und trotzdem Merandil von relativ schmaler Statur war, stieß er einige Male an den spitzen Felswänden an, zerriss sich sein Hemd und schrammte seine Haut auf.

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now