Die Schattenkrieger

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Ein Raunen lief durch die Blätter des Ahnenbaumes. Was leise und zögerlich begann, steigerte sich bald zu einem Tosen. Anais' Stimme schwebte über der Lichtung und nicht nur Idhril, sondern alle, die in der Nähe der großen Linde weilten, hörten ihre Botschaft klar und deutlich.

„Sie sind beide am Leben", seufzte Idhril erleichtert.

Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. Hatte der dunkle Herr trotz Anais' Bemühungen, die Schattengrenze zu schützen, einen Weg gefunden, diese mit einem Heer von fleischgewordenen Schatten zu überwinden?

Sie erinnerte sich noch vage daran, wie seine Mordkommandos über Melith geflogen waren und alle getötet hatten, die ihnen begegneten. Idhril war fast noch ein Kind gewesen und hatte sich in einem hohlen Baumstamm versteckt, als die Schatten über das Lichtwaldreich gekommen waren. Sie hatte mit ansehen müssen, wie einem Großteil ihrer Sippe einfach das Leben ausgesaugt wurde. Sie leuchteten einmal kurz auf, wie Glühwürmchen in der Dämmerung, als ihre Magie aus den leblosen Körpern entwich und die Schatten sie aufsogen. Jede Farbe war aus der Haut und den Augen der Toten verschwunden, nachdem sie ihrer Magie beraubt worden waren.

Idhril sah die bleichen kalten Leiber vor ihrem geistigen Auge und erschauderte. Welche Schrecken würden Wesen aus Fleisch und Blut mit Seelen aus Schatten über die Elfen bringen? Konnte man sie niederstrecken und vergehen lassen, wie andere lebendige Kreaturen, oder waren sie unzerstörbar durch ihren uralten dunklen Geist?

Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater ihr einst eine Sage von den Anfängen der Zeit erzählt hatte. Darin hieß es, dass die Dunkelheit und das Licht um die Vorherrschaft kämpften, lange bevor es Lebewesen gab.

Sie fochten unerbittlich und drängten einander an den Rand des Universums. Doch keine Seite vermochte es, die andere vollends zu bezwingen. Da geschah etwas, dass die Welt begründete, so wie wir sie heute kennen. Das Licht und das Dunkel verschmolzen zu Zwielicht, aus dem ein Sonnenaufgang entstand, der den Tag und die Helligkeit brachte. Die Dunkelheit schlief ein und erwachte erst nach vielen Stunden wieder. Langsam kehrte sie zurück und daraus erwuchs die Abenddämmerung. Das Licht war müde von seinem Tagewerk und übergab der Dunkelheit das Zepter für die Stunden dessen, was wir heute Nacht nennen. Am Morgen erwachte das Licht erneut und verschmolz mit dem Dunkel zur Morgenröte. Und so wandelte sich die Zeit fortan von Nacht zu Tag und von Tag zu Nacht und sowohl die Dunkelheit als auch das Licht, waren zufrieden mit dem Pakt, den sie geschlossen hatten. Es würde fortan das Eine ohne das Andere nicht geben.

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten und dieser ist nicht dunkel, sondern das, was man aus ihm macht. Er ist angenehme Kühle an einem heißen Sommertag, oder frostige Kälte, wenn Mutter Natur den Winter aussendet. Schatten kann den Augen Schutz bieten, da die Sonne all zu gleißend vom Himmel herabstrahlt. Doch er kann auch Grauen bringen, wenn er sich düster und bedrohlich, geboren aus dem letzten fahlen Licht, welches zu vergehen droht, über uns legt.

Die Schatten, welche der dunkle Herr aussendete, waren keine Wohltaten. Sie kamen einzig und allein, um sich im Namen ihres Herrn zu rächen.

Idhril lief zum Hause Anurons, ihres schnellsten Botens, und beauftragte ihn damit, zu Mandelion zu reiten und ihm Anais' Botschaft zu überbringen. Anuron machte sich umgehend auf den Weg und trieb sein Pferd mit größter Eile der Hauptstadt entgegen.

Derweil besuchte Idhril ihre Krieger und teilte ihnen ihre Bedenken mit. Niemand hatte die erste Botschaft Anais' vergessen, in der sie vom Tod all ihrer Gefolgsleute berichtete. Sie waren von den Schatten besessen gewesen.

Würden die körperlichen Kreaturen von Morlith auch über die Gabe der Bewusstseinskontrolle verfügen und somit doppelten Schaden, sowohl durch Gedanken als auch durch Waffen und körperliche Stärke, anrichten können?

Schattengrenze - ein Elfenroman über Licht und SchattenWhere stories live. Discover now