Die letzten Minuten

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Mama lag bewusstlos am Boden. Mir wurde schwarz vor Augen und ich musste mich an einem Gast festhalten, damit ich mich auch noch ohnmächtig wurde. ,,Mama!", keuchte ich.
Sie öffnete ihre Augen. Da bemerkte ich, dass ihr Hals lila geworden war. Mit großen Augen starrte ich hin. ,,HILFE!", schrie ich unter Tränen. Mama krallte sich an mich und versuchte, sich aufzusetzen. ,,Schatz", murmelte sie in Papas Richtung, der kreidebleich neben mir hockte und ihre Hand umklammerte.
Ich tastete Mamas Hals ab. Er war eiskalt. Mama musste würgen. Aus ihrem Mund drang eine lilafarbene Flüssigkeit. Papa roch daran. Jetzt wurde er noch weißer im Gesicht. ,,Nein", raunte er, ,,Nicht das!"
,,Was?", weinte ich, ,,Papa, sag es! Was ist mit ihr?!"
,,Gift", sagte er nur.
Das war zu viel. Ich schrie und weinte. Ich warf mich auf Mamas Oberkörper und klammerte mich an ihr fest. ,,Mama, sei tapfer!", schluchzte ich. Mit blutigen Händen umarmte sie mich und strich mir übers Haar. Ihre Finger bebten.
Papa verbarg nun auch nicht mehr seine Tränen. ,,Es wird alles gut", begann er. Aber ich wusste, dass es nur leere Worte waren. Ich starrte Mama an und sie lächelte. Aber ich sah keinen Grund dazu. Ihre Wangen wurden von Sekunde zu Sekunde blasser und ihre Atemzüge ruhiger. ,,Mama, bleib bei mir", flüsterte ich, ,,Ich brauche dich doch. Ich hab dich lieb."
Mama sah alle Umstehenden an. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und sagte: ,,Ich liebe dich. Pass auf dich auf, mein Schatz!"

Dann schloss sie die Augen und bewegte sich nicht mehr.

Eine Welle der Verzweiflung überkam mich. Nein... das konnte nur ein Traum sein... Mama...
Papas Schluchzer rissen mich zurück. ,,MAMA!", schrie ich. Ich rüttelte sie, hörte nach ihrem Herzschlag oder ihrem Atem. Aber sie gab kein Lebenszeichen von sich. Verzweifelt legte ich mich neben sie auf den Boden. Ich wollte sterben. Mama...das war doch unmöglich...
Und dann kamen alle Erinnerungen hoch. Alle schönen Momente, die ich mit Mama zusammen erlebt hatte. Meine allererste Shoppingtour, meine Einschulung und Mamas und Papas Hochzeit. Ich hatte mich nie für all das bedankt. Stattdessen hatte ich mich oft mit ihr gestritten. Was für ein schrecklicher Mensch war ich?!
Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel geweint. Es ging nicht in meinen Kopf herein. Mama konnte nicht...tot...sein. Es fühlte sich wie eine Illusion an, als würde Mama jeden Moment aufstehen und ,,Überraschung!", rufen.
Der weiche Klang ihrer Stimme. Ich würde sie nie wieder hören. Machte das Leben noch einen Sinn?
,,Komm zurück", flüsterte ich. Meine Stimme erstickte an meinen Tränen.

Dann spürte ich eine Hand an meiner Schulter. Es war Oma. Sie bat mich, von Mama wegzugehen. Aber ich wollte nicht. Niemals. Als Oma ihren Druck verstärkte, schrie ich, riss mich los und legte mich erneut hin. ,,Nein!", rief ich, ,,Ich geh hier nicht weg! Nie.."
Oma gab es auf. Stattdessen hockte sie sich neben mich, streichelte mir über die Schulter und schluchzte leise vor sich hin.

An diesem Abend weinte ich nur noch. Ich konnte einfach nicht damit klarkommen. Mama war immer da gewesen, wenn ich mal traurig war oder wenn ich ein Pflaster brauchte. Jetzt hatte ich niemanden. Und ich wollte auch niemanden. Sie verstanden mich alle einfach nicht. Niemand tat das. Nicht mal Papa. Ich wollte nur noch in meinem Bett liegen und weinen. Immer, wenn jemand rein kam, drehte ich mich weg und wartete, bis derjenige wieder weg war. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte meine Mutter zurück haben.

Denn sie war ein Teil meines Lebens gewesen.

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