Kapitel 21

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Ja, wie ging es Lisa? Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen, als sie einsah, dass Tao nicht mehr zurückkam. Sie hatte so viele Fragen, doch keine Antworten und auch keinen Tao. Stumm ging Lisa ihrer Arbeit nach, wenn jemand sie nach ihrem Wohlergehen fragte, lächelte sie gezwungen und sagte, ihr ginge es prima. Nur Guma merkte, dass mit ihrer selbsternannten Tochter etwas nicht stimmte, doch nachfragen tat sie nicht. Sie wusste, Lisa würde auch sie anlügen und sagen, dass alles in Ordnung wäre.
Gab Lisa sich die Schuld über Taos Flucht? Ja, das tat sie. Obwohl sie wusste, dass Tao nicht wegen ihr geflüchtet war. Vielleicht war sie zu aufdringlich gewesen, vielleicht viel zu zurückhaltend, vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Vielleicht hatte Tao sie nicht geliebt, sondern nur ausgenutzt, um an die Freiheit zu gelangen. War sie wirklich so naiv gewesen? Lisa hatte sich immer für klug gehalten. Würde Tao überhaupt jemals zurückkommen? Lisa sollte aufhören, sich Fragen zu stellen, dessen Antworten sie nicht kannte.
Das Mädchen bekam vieles mit, was im Palast vorging. Tao wurde im ganzen Reich gesucht, Lisa wollte sich nicht vorstellen, wie Tao für seine Flucht bestraft werden würde. Sicher würde der Kaiser keine Gnade zeigen, sondern Tao seine Wut und Macht spüren lassen. Lisa hatte Angst um Tao, große Angst. Ein Teil von ihr hoffte, er würde zurückkehren, der vernünftige Teil hoffte, Tao wäre in Sicherheit. Vielleicht hatte Tao es schon über die Grenze geschafft. Wenn Lisa genau wüsste, wo er war, würde sie ohne Umschweife alles stehen und liegen lassen und zu ihrer Liebe durchbrennen.

,,Wir haben immer noch keine Spur von ihm." Lisa hatte gerade den Tisch im Speisesaal gedeckt, als Wu Yifan und Namjoon eintraten. Die beiden speisten gerne zusammen, sie waren gute Freunde. Der Kaiser nickte Lisa kurz zu und Namjoon lächelte sie an. So sehr der Kaiser und der Hauptgeneral befreundet waren, das Gespräch zwischen Lisa und Namjoon war ein Geheimnis. Namjoon hatte schließlich versprochen, niemanden etwas zu verraten und Lisa vertraute ihm.
Lisa zwang sich wieder, höflich zu lächeln, ehe sie sich verbeugte und den Speisesaal verließ. Oder verlassen wollte. ,,Iss mit uns, Lalisa." Es war Wu Yifan selbst, der Lisa zum Essen einlud. Früher hatten sie öfter zusammen gegessen, da war Lisa noch kleiner und noch von dem Vorfall mit ihrer Familie traumatisiert. Lisa wusste, wie sehr der Kaiser an ihrem Vater hing. Als einzige Überlebende in der Familie hatte sich Yifan gut um sie gekümmert und dafür gesorgt, dass sie glücklich war. Als Lisa immer älter wurde, merkte er, dass das Mädchen kein Mitleid wollte. Die gemeinsamen Mahlzeiten wurden immer weniger, bis Yifan alleine mit seinem Bruder an dem riesigen Tisch saß. Es war das erste mal seit Jahren, dass er Lisa wieder zum Mitessen einlud, weswegen Lisa erstmal wie erstarrt stehenblieb. Zögerlich drehte sie sich um. Unter anderen Umständen hätte sie ohne zu zögern zugestimmt. Doch jetzt fühlte sich Lisa immer noch, als hätte sie einen Hochverrat an den Kaiser begannen.
Es waren die erwartenden Blicke, die Lisa zustimmen ließen. Am liebsten hätte sie verneint und wäre zurück in ihr Zimmer gegangen, um weiter über Tao und ihre Fragen nachzudenken. Stattdessen saß sie mit Wu Yifan, Namjoon, Luhan und Sehun, die hinzugekommen waren, an dem riesigen Esstisch und versuchte, nicht allzu unglücklich auszusehen. Während der Mahlzeit stellte Yifan ihr ab und zu Fragen, doch die meiste Zeit besprach er irgendetwas mit Namjoon, wobei Lisa nicht großartig mithörte. Es ging nicht um Tao, warum sollte sie sich dann politische Angelegenheiten anhören? Luhan und Sehun waren mit sich selber beschäftigt. Sie waren vor gar nicht so langer Zeit ein Pärchen geworden, die Neuigkeit hatte sich schnell im Palast ausgebreitet. Sehun hatte Lisa es allerdings vorher schon erzählt, bevor es alle wussten. Sie hatte den Freundschaftsbonus. Jetzt war aber nicht viel davon zu spüren. Kichernd steckten die beiden Liebesvögeln ihre Köpfe zusammen, während sie sich etwas zuflüsterten. Wahrscheinlich etwas kitschiges. Früher hatten Lisa und Luhan am Esstisch Streiche ausgeheckt und dann darüber gelacht, dabei bemüht, leise zu sein, damit Yifan ihre Pläne nicht durchschaute. Ob sie erfolgreich waren oder nicht, war eine andere Sache.
Doch das war alles früher, jetzt haben sich die Zeiten geändert. Lisa fühlte sich ausgeschlossen. Sie nahm es ihnen nicht übel, im Gegenteil. Sie gönnte es Luhan und Sehun, glücklich zu sein. Yifan war der Kaiser, er hatte keine Zeit für irgendwelche Dienstmädchen, die die Tochter eines längst verstorbenen Freundes war.
Niemand merkte es, wie Lisa in ihrem Teller mehr rumstocherte als aß. Wenn Tao noch im Palast gewesen wäre, hätte sie ihm das Abendessen gebracht und wäre noch eine Weile bei ihm geblieben. Sie hätte seinen warmen Wörtern zugehört, seine liebevollen Umarmungen genossen und ihn zwischendurch geküsst. Sie hätte nicht lange bei ihm bleiben können, aber es wären kostbare Momente gewesen. Tao war aber nicht da, stattdessen saß sie mit der kaiserlichen Familie, Sehun und Namjoon am Esstisch und fühlte sich einsam. Seit dem Tod ihrer Eltern war Lisa immer einsam gewesen, bevor sie Tao kennengelernt hatte. Guma hatte sie vielleicht aufgenommen und sich um sie gekümmert, aber sie war nicht ihre leibliche Mutter gewesen. Lisa erinnerte sich an den liebevollen Blick ihrer Mutter, mit denen sie auf ihren Ehemann und Lisas Vater, auf ihren Bruder und sie geschaut hatte, während sie gleichzeitig ihre Kinder über das unangebrachte Benehmen am Esstisch gescholten hatte. Es waren schöne, aber dennoch schmerzvolle Erinnerungen. Wie gerne säße Lisa mit ihrer Familie zusammen und würde über die schlechten Witze ihres Vaters lachen. Er hatte sie immer in Schutz genommen, wenn seine Ehefrau Lisa zum wiederholten Male ermahnen musste, da sie zu laut aufgelacht hatte.

Lisa schielte zu der großen Uhr hinauf, die über der Tür hing. Bald würde sie eigentlich den Speisesaal betreten und anfangen, den Tisch aufzuräumen. Der Kaiser würde sein abendliches Bad nehmen, dass eine andere Bedienstete für ihn vorbereitet hatte und Luhan würde sich mit Sehun zurückziehen. Namjoon ging zu sich nach Hause, nach einiger Zeit legten sich die Bediensteten im Palast auch ins Bett und in dem großen Gebäude wurde es still.
Lisa trat den Weg in ihr Zimmer an, als aufgehalten wurde und zwar von Wu Yifan selbst. ,,Lass uns reden." Und Lisa konnte nicht dem Kaiser nicht abschlagen. Ihr Herz pochte in hohen Tempo gegen die Rippen, als sie Wu Yifan durch die Gänge folgte in eines der sommerlichen Teezimmer folgte. Der hochgewachsene Mann setzte sich auf einen Sessel und deutete Lisa an, gegenüber Platz zu nehmen. Lisa presste ihre Hände fest an ihr Schoß, damit Wu Yifan ihre zitternde Hände nicht bemerkte. Im Moment hatte Lisa große Angst, der Kaiser wüsste alles über sie. Der Kaiser atmete tief ein. Gleich würde er sagen, dass er über Lisa Beziehung mit Tao wusste. ,,Wie geht es dir?" Überrascht schaute Lisa auf. Wu Yifan sah das Mädchen besorgt an. ,,Mir geht's gut.", antwortete sie. ,,Wir haben lange nicht miteinander richtig geredet." Lisa nickte nur.
Warum sprach der Kaiser nicht über Tao? Was hatte er vor?
,,Vermisst du sie?" Die Frage kam etwas plötzlich und Lisa verstand sie zuerst nicht. ,,Wen denn?", fragte sie nach. Der Kaiser senkte seine Augen. ,,Deine Familie.", antwortete er leise, als habe er Angst, Lisa damit zu verletzen.
,,Manchmal vermisse ich sie. Aber nicht mehr so schlimm wie früher." Tao hatte ihr dabei unabsichtlich geholfen. ,,Es sind mittlerweile dreizehn Jahre her." Wu Yifan seufzte. ,,Ich vermisse Baohu Zhe immer noch, mehr als meinen eigenen Vater." Der Kaiser lehnte sich in dem Sessel zurück. ,,Schwierige Zeiten stehen an, ich wünschte, dein Vater wäre hier."
,,Schwierige Zeiten?" Erschrocken weitete Lisa ihre Augen. ,,Du darfst das niemanden sagen, Lisa. Das ist ein Staatsgeheimnis." Lisa nickte. ,,Dein Vater wüsste genau, was zu tun wäre." ,,Ja, er war ganz klug und stark." Der Kaiser nickte. ,,Zitao besitzt diese Fähigkeiten." Lisas Herz machte bei der Erwähnung von Tao einen kleinen Satz. ,,Doch er ist entkommen." Yifan seufzte. ,,Wieso wolltet Ihr ihn heiraten, Eure Majestät?" Zaghaft schaute Lisa den Kaiser an. ,,Er war unhöflich Euch gegenüber und hat seinen Hass nicht versteckt." ,,Du musst mich nicht siezen.", meinte der Kaiser und seufzte erneut. ,,Zitao würde niemals freiwillig dem Kaiser dienen. Durch die Hochzeit und seiner Krönung zur Kaiserin, dem höchsten Amt nach dem Kaiser, wäre er verpflichtet, mir und dem Volk zu helfen." Der Kaiser hatte Tao also nie geliebt. Er wollte den Jungen nur zu seinem Gunsten ausnutzen. In Lisa wallte Mitleid für Tao auf, gleichzeitig wuchs eine Art Abneigung in ihr gegenüber Yifan. Jetzt verstand Lisa auch, wieso Tao geflohen war. Der Junge schien gewusst zu haben, was der Kaiser mit ihm vorhatte und die erste Chance zur Flucht genutzt. Er hatte gewusst, dass man Lisa befragen würde und absichtlich keine Nachricht hinterlassen, damit ihr nichts geschah. Lisa hoffte sehr, dass ihr Freund in Sicherheit war und unbemerkt das Reich verlassen konnte.

Wanted //Taoris//Where stories live. Discover now