Kapitel 4

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*Triggerwarnung: Das folgende Kapitel enthält Inhalte zum Thema Mobbing. Wenn Du Dich damit nicht wohl fühlst, solltest Du es nicht lesen. Oder lese es zusammen mit einer Vertrauensperson. Bist Du selbst betroffen von Mobbing, findest Du hier Hilfe: https://www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/mobbing.html *



Anstatt wie sonst direkt nach der Foto-AG nach Hause zu fahren, fuhr ich mit dem Longboard noch in die Innenstadt. Wir hatten in Kunst die Aufgabe bekommen, verschiedene Personen zu skizzieren. Und da donnerstags immer Markt war, wollte ich das ausnutzen. Am Marktplatz angekommen, setzte ich mich etwas abseits auf eine Bank. Ich zog mein Skizzenbuch und meinen Bleistift aus dem Rucksack. Meine Füße stellte ich auf mein Longboard, damit meine Knie etwas erhöht waren und ich mein Skizzenbuch darauf ablegen konnte. Dann begann ich die Menschen zu beobachten.

Da war die kleine rundliche Wurstverkäuferin, die freundlich über die Plexiglas-Theke lachte und einem kleinen dunkelhaarigen Mädchen mit zwei langen Zöpfen eine extra Scheibe Wurst reichte. Der türkische Gemüsehändler, der über den ganzen Platz rief, um seine frische Ware anzupreisen. 

Ein griesgrämig dreinschauender alter Herr mit Gehstock und einem großen Weidenkorb, der sich schimpfend einen Weg durch die Menge bahnte. Wie schon erwartet, hatte der Markt einiges an Zeichenpotenzial und ich begann zu skizzieren. Erst nahm ich mir die Personen hinter den Verkaufsständen vor, da diese sich nicht viel bewegten. Dann versuchte ich die Käufer zu zeichnen. Hierbei musste ich schon etwas flinker sein, da man sie sonst schnell aus den Augen verlieren konnte.

Vertieft in meine Arbeit, setzte sich plötzlich jemand neben mich und ließ seinen Arm schwer auf meine Schultern fallen. Aus meiner Konzentration gerissen, erschrak ich so sehr, dass ich meinen Bleistift aus der Hand fallen ließ. Der Stift fiel auf den Boden und rollte ein Stück von mir weg. „Na, du Opfer! Was machst du da denn Schönes?"

Der hat mir gerade noch gefehlt!

„Verpiss dich, Fettsack!", zischte ich Micha an.

„Was denn? Warum bist du denn heute so schlecht gelaunt? Darf ich mich denn nicht ein bisschen zu dir setzen und mit dir plaudern?", sagte er in einem übertriebenen, unschuldigen Ton.

Ich schluckte schwer. Was hat dieses Arschloch jetzt schon wieder vor? Ist er zufällig hier, oder mir gefolgt? Aber vor so vielen Menschen wird er mir sicher nichts tun, oder?

„Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen, oder was?", unterbrach er meinen Gedankengang, „sonst hast du doch auch immer so eine vorlaute Klappe, Opfer!"

„Sag einfach, was du von mir willst, und dann verpiss dich!"

„Hmmm ...", er tat so, als würde er nachdenken. Sein Arm lastete immer noch schwer und unangenehm auf meinen Schultern, „du könntest mir zum Beispiel deine Skizzen für Kunst geben, dann muss ich es nicht mehr selbst machen."

Ich lachte laut auf: „Frau Mazurek würde dir niemals abkaufen, dass die Skizzen von dir sind."

„Na ja, wenn das so ist, muss ich es wohl doch selbst machen." Ich glaubte ihm seinen Sinneswandel natürlich nicht.

„Willst du deinen Stift eigentlich nicht wieder aufheben?", fragte er scheinheilig.

„Nein, ich kauf' mir 'nen neuen", antwortete ich sarkastisch.

In dem Moment stand er plötzlich auf, doch mit seinem Arm auf meinen Schultern drückte er mich nach vorne. Meine Füße, die ich immer noch auf dem Longboard stehen hatte, rollten zur Seite und ich fiel vornüber von der Bank auf den Pflasterstein. Schnell versuchte ich mich aufzurappeln, doch Micha war schneller. 

Er schnappte sich mein Skizzenbuch und rannte ein paar Schritte von mir weg. Die Wut übermannte mich und ohne darüber nachzudenken, was die Menschen um mich herum denken könnten, schrie ich ihm hinterher: „Verdammt, du dummes Arschloch, gib mir sofort mein Buch zurück!" Die Wurstverkäuferin sah mich kopfschüttelnd an.

„Was passiert sonst?", fragte er fies grinsend. Er ging noch ein paar Schritte weiter. Als ich begriff, worauf er zuging, wurde mir schlecht. Wieder auf den Beinen, rannte ich ihm hinterher, doch ich war zu langsam. Er strahlte regelrecht vor Schadenfreude, als er mein Skizzenbuch nur mit Zeigefinger und Daumen haltend über dem Stadtbrunnen baumeln ließ. 

Meine Wut schlug sofort in Verzweiflung um: „Bitte, bitte ... Du kannst alles mit mir machen, was du willst. Verprügel mich, oder stopf mich in einen Mülleimer, ich werde nicht petzen, aber bitte, bitte wirf nicht mein ..." 

Und noch während ich ihn anflehte, öffnete er gewissenlos seinen Griff. Ich konnte es nicht fassen. Ich rannte die letzten Schritte zum Brunnen und schaute über die steinerne Begrenzung, während Micha lachend wegging. 

Ich sah gerade noch, wie mein Skizzenbuch sanft schwebend auf den Brunnenboden sank. Schnell kletterte ich über die Begrenzung und stieg ebenfalls ins Wasser. Es reichte mir fast bis zur Hüfte und war eiskalt. Fuck!

Immer noch klatschnass und vor Kälte bibbernd, kam ich endlich zu Hause an. Meine Mum war noch nicht zu Hause. Gott sei Dank!

Ich ging direkt ins Badezimmer und zog meine tropfende Kleidung aus. Mein Skizzenbuch oder das, was davon übrig war, legte ich mit wenig Hoffnung auf den Heizkörper. Es war komplett durchnässt. 

Wieder überkam mich eine tiefe Traurigkeit. In dieses Buch zeichnete ich schon über ein Jahr. Mein ganzes Herzblut steckte darin. Und jetzt war es zerstört. Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich mich unter das heiße Duschwasser stellte.

Wieder aufgewärmt saß ich auf meinem Schreibtischstuhl und starrte die kleine silberne Box an, die vor mir stand.

Tu's nicht.
Tu's nicht.
Tu's nicht.
Tu's nicht!
„Aber ich will!", flüsterte ich und öffnete die Box.


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Hallöchen,

na, wie hat euch das Kapitel gefallen?
Auf jeden Fall traurig, was Tristan wegen Micha hier erlebt.
Hattet ihr auch schonmal eine Herzensarbeit, die unwiederuflich zertört wurde?

Lasst mir doch gerne einen Kommentar da, ich würde mich freuen! Und wenn euch das Kapitel gefallen hat, dann voted auch gerne dafür ab.

Liebe Grüße Elena :)



Tristan und Timothy [BxB] - Wenn Bernstein Eis zum Schmelzen bringtNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ