Kapitel 15

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Zusammengequetscht saß ich auf der Rückbank eines alten VW-Golfs, zwischen meiner Schwester Maja und Timothy. Grace schaute immer wieder zu mir nach hinten und erzählte mir ihre ganzen Foto-Ideen, die sie sich für die Aufgabe überlegt hatte, während Andrew sich darauf konzentrierte, dem Navigationssystem zu folgen. 

Ich hörte Grace nur mit einem Ohr zu. Meine Gedanken waren bei Timothy, der neben mir saß. Sein Arm drückte gegen meinen Arm und löste ein Kribbeln in meinem ganzen Körper aus, das mich komplett aus der Fassung brachte.

Als das Auto dann auf dem kleinen Kiesparkplatz zum Stehen kam, stieg ich schnell aus und musste erstmal tief Luft holen, um wieder klarzukommen.

„So, ich bin bereit. Wo müssen wir hin?", rief Grace und drehte sich dabei um die eigene Achse. Wir konnten uns alle ein Lachen nicht verkneifen, bei so viel Euphorie.

„Da lang, einfach mir folgen", antwortete Maja. Unsere kleine Gruppe setzte sich in Bewegung. Andrew, der definitiv ein Auge auf meine große Schwester geworfen hatte, schloss direkt zu ihr auf und ging neben ihr her. Grace, Timothy und ich liefen hinter den beiden. 

Grace war immer noch dabei, mir zu erklären, wie sie ihre Ideen umsetzen wollte. Um den Hals hing ihre Spiegelreflexkamera, die bei jedem Schritt mit wippte. Timothy war den Weg über wie immer eher ruhig, trug aber sein typisch höfliches Lächeln auf den Lippen.

Nach einem kurzen Fußmarsch kamen wir an unserer Fotolocation an. Ich hatte nicht zu viel versprochen. Still lag der kleine See da. Das Wasser wirkte unnatürlich Blau. Die in knalliges Orange getauchten Buchenblätter bildeten einen wunderbaren Kontrast dazu.

Staunend standen wir alle fünf am Rand des Sees, lehnten uns an die Holzbrüstung und genossen für ein paar Minuten einfach nur die Ruhe und den mystischen Anblick.

Doch Grace unterbrach die Stille schnell wieder: „Tristan, wollen wir loslegen?" Nur schwer konnte ich meinen Blick von dem unergründlichen Blau abwenden, doch dann raffte ich mich auf und folgte ihrem Tatendrang.

Zuerst machten wir einfach nur normale Naturaufnahmen. Doch dann testeten wir auch anderes aus. Zum Beispiel sollte ich den Weg entlang auf die Kamera zugehen. Grace stellte eine längere Belichtungszeit ein und drückte den Auslöser. 

Ich rannte zu ihr, um das Ergebnis auf dem kleinen Display zu betrachten. Wir grinsten beide. Auf dem Foto wirkte es so, als würde sich ein halbtransparenter Geist durch den orangen Wald bewegen. Im Hintergrund glitzerte der blaue See im Sonnenlicht.

„So, ich glaube, jetzt haben wir genügend verschiedene Motive. Da müssen wir jetzt erst mal das Beste aussuchen", meinte Grace, nachdem wir fast eine Stunde fotografiert hatten, „und jetzt will ich nochmal den Anblick genießen ohne Kamera vor dem Auge."

Sie sprach mir aus dem Herzen, und wir stellten uns wieder an die hölzerne Brüstung, die den ganzen See einmal umrundete. Doch nach einigen Minuten wurde es ihr zu langweilig. „Wollen wir mal die anderen suchen, ich glaube, ich habe da hinten Majas rosa Jacke durch die Blätter gesehen."

Ich überlegte kurz und antwortete: „Ich glaube, ich würde lieber noch etwas länger den Anblick hier genießen, aber du kannst gerne nach den anderen schauen."

Sie nickte. „Okay, alles klar. Dann bis nachher", meinte sie und ging in die zuvor angedeutete Richtung.

Ich lehnte mich mit verschränkten Armen auf das Geländer und ließ meinen Blick einige Minuten über das blaue Nass schweifen. Dann tauchte plötzlich jemand neben mir auf und lehnte sich ebenfalls an. So nah, dass sich unsere Schultern fast wieder berührten, obwohl hier definitiv mehr Platz war als in Andrews Kleinwagen. Ich schaute ihn an.

Die beruhigende Wirkung des Sees löste sich in Luft auf. Ich spürte, wie mein Puls ein die Höhe schnellte.

„Echt schön hier", meinte er und schaute auf den See.

„Mhm", machte ich nur und schaute immer noch ihn an. Doch bevor es zu auffällig wurde, ließ ich meinen Blick wieder zum See wandern.

Wir standen einfach nur da, genossen die Stille und ich genoss seine Anwesenheit. Seine Schulter ganz nah an meiner Schulter. Seine Hand an der Brüstung, die fast meine Hand berührte. Und dann spürte ich es. Nur ganz kurz berührte sein kleiner Finger meinen kleinen Finger. War das ein Versehen?

Ich versuchte unauffällig auf unsere Hände zu schauen. Und dann wieder! Sein kleiner Finger bewegte sich nur ganz kurz und stupste wieder meinen an. Mein Herz machte einen Aussetzer. Ich blickte zu seinem Gesicht hoch. Doch er schaute immer noch lächelnd auf den See, als wäre nichts gewesen. Ich schaute auch wieder zum Wasser.

Dann berührte er mich wieder, doch diesmal zog er seinen Finger nicht zurück. Sondern streichelte sanft an meinem entlang. Und dann ließ er seinen kleinen Finger einfach auf meinem verharren. Ich hielt die Luft an, starrte immer noch stur auf den See. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Ich hatte Angst, dass es dann enden würde. Dabei fühlte es sich so schön an.

„Gehst du eigentlich zur Halloween-Party?" Ich zuckte kurz zusammen, da ich diese Unterbrechung der Stille nicht erwartet hatte.

„Ich denke schon und du?", fragte ich zurück.

„Das Problem ist, ich habe kein Kostüm. Und ich muss Andrew noch überreden, ob er mich fährt und nachts wieder abholt", endlich schaute er zu mir. Ich blickte ihn auch an: „Also das mit dem Kostüm wäre kein Problem. Wir haben einen ganzen Dachboden voll damit. Du könntest dir eins aussuchen."

„Das wäre natürlich cool. Wollen wir uns dann vor der Party bei dir treffen?" Oh mein GOTT!

Ich musste mich beherrschen, nicht laut loszuschreien. „Ja, können wir gerne so machen."

„Hey, ihr zwei. Da seid ihr ja. Wir wollen los." Die Berührung verschwand und ließ eine kalte Leere zurück. Timothy rappelte sich auf und drehte sich zu seinem Bruder um. „Maja meinte, ihr würdet nachher noch 'nen Filmabend machen. Wenn das für euch passt, würden wir uns anschließen?"

Nein! Ich will alleine mit Timothy sein! „Ja, klar", antwortete ich Andrew.

Grace und Maja tauchten hinter Andrew auf. „Ich dachte mir, wir könnten dazu Pizza bestellen", warf meine Schwester in die Runde. Das machte die Sache natürlich wieder um einiges attraktiver.

Tristan und Timothy [BxB] - Wenn Bernstein Eis zum Schmelzen bringtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt