39. Kapitel

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Am nächsten Morgen verliessen wir schon früh unser Haus und machten uns auf den Weg zu Emily's Home. Auch wenn ich meinen Psychiater, meinen Arzt und einige der Kinder, die leider dort leben mussten, vermisste, graute es mir trotzdem davor, wieder dorthin zu gehen. Es kam mir vor, als wäre ich Jahre nicht mehr dort gewesen, doch war es gerade einmal ein Monat...

Da wir eine ellenlange Autofahrt vor uns hatten, beschloss ich noch etwas zu schlafen. Wenn ich schon nicht auf den Winterball konnte, so wollte ich wenigstens meinen Schlaf!

Ich erwachte, durch ein Schaukeln und als sich uns eine hohe aufgeregte Stimme näherte. „Was ist mit ihr? Hatte sie einen Rückfall? Ist sie bewusstlos? Ach was frage ich! Natürlich ist sie das! Ich werde sofort einen Arzt benachrichtigen!"
Kaum hatte die Dame ihren Redeschwall beendet, meldete sich Aidens Stimme, die von oben her kam:„Ganz ruhig, Mrs! Sie schläft bloss. Wir sind früh aus dem Haus und haben eine lange Autofahrt hinter uns. Ihr geht es gut."
Lagsam öffnete ich die Augen und fand mich in den Armen meines zweitältesten Bruders wieder.
„Guten Morgen, Prinzessin!", strahlte mich Aiden an, worauf ich einfach nur zurückstrahlen musste.
Die Empfangsdame liess sich erleichtert auf ihren Stuhl hinter dem Tresen nieder. „Na dann ist ja gut. Sie können in den Aufenthaltsraum gehen. Sie werden bereits erwartet, so wie mir das zu Ohren gekommen ist", zwinkerte sie mir zu und widmete sich wieder ihrem Bildschrim. Ich schaute meine Brüder fragend an, doch diese zuckten bloss, eben so verwirrt wie ich, mit den Schultern.
Meine Neugier stieg und ich raste schon fast auf den Aufenthaltsraum zu. Was Überraschungen anging, war ich nicht der geduldigste Mensch auf Erden.
Gespannt riss ich die Türen auf und was sich in dem Raum befand, rührte mich fast zu Tränen.
So ziemlich alle Patienten, was nicht mehr besonders viele waren, standen da und als sie mich erblickten, kamen sie so schnell, wie sie mit den Sauerstoffflaschen, Geräten, Krücken und Rollstühlen eben konnten, auf mich zu.
Die Kleinsten von ihnen schrien freudig:„Nati ist wieder da! Nati ist wieder da!"

Als sie mich dann noch alle in die Arme nahmen, da flossen die Tränen doch noch. Ich hatte total vergessen, dass ich hier ja auch Freunde hatte!
Das erinnerte mich ein weiteres Mal daran, dass ich mit meiner Krankheit viel offener umgehen musste. Alle diese Kinder teilten ein ähnliches Schicksal: Sie alle waren Krank und hatten keine Hoffnung auf eine vollständige Heilung. Die jüngsten waren erst sechs oder sieben Jahre alt und die ältesten... maximal siebzehn.
Bei meinem letzten Besuch musste ich erfahren, dass die Klinik vier Patienten verloren hatte.
Dass war der grösste Punkt, der uns alle zusammen schweisste: Der Tod.
Jedes Mal, wenn hier jemand starb, schweisste uns das bloss noch mehr zusammen.
Eigentlich betraf mich das bis vor einen Monat noch gar nicht wirklich. Ich war bisher immer diejenige, die zurückgezogen in ihrem Zimmer oder draussen gelernt oder sonst etwas in dieser Art getan hatte. Mein Ziel war es damals keine Freundschaften zu knüpfen. Ich wollte niemanden verletzten, falls ich sterben sollte und ich wollte auch selbst nicht verletzt werden, wenn das Umgekehrte eintreffen sollte. Doch unter den vier Kindern, die erste gerade gestorben waren, war Deborah. Debbie war in meinem Alter und nie wirklich eine richtige Freundin für mich  gewesen. Ab und zu hörte sie mir beim Gitarre spielen zu oder lernte neben mir. Manchmal hatten wir auch über irgendetwas meist Unwichtiges gesprochen. Auch wenn ich nicht einmal ihren Nachnamen oder sonst etwas über sie wusste, kam sie einer Freundin sehr nahe.
Als ich letzten Monat erfahren hatte, dass sie nicht mehr da war, dass sie mir niewieder von einem ihrer Bücher erzählen konnte, das sie gerade las, bekam mein Herz einen kleinen Spalt. Sie hatte Leukämie, wie ich erfuhr. Ihr war genau wie mir nicht bestimmt gewesen lange zu leben.
Ab diesem Tag passiert aber etwas ganz Entscheidendes: Endlich nahm ich die anderen Kinder wahr, die gleich waren wie ich. Da ich nicht wusste wohin mit meinen Gefühlen setzte ich mich mit einer Gitarre in den Aufenthaltsraum und begann zu spielen und meinen Kummer wegzusingen. Die andernen hörten mir zu und beteten für einander. Von da an gehörte ich dazu.
Eigentlich war es traurig, dass ich erst da bemerkte, dass ich nicht alleine war mit einem höllischen Leben. Ich war es nie gewesen. War es möglich, dass ich Angst davor hatte Kontakte zu knüpfen, damit ich nicht verletzt wurde? Aus irgendeinem Grund musste ich an Ethan denken. Hatte er womöglich die selbe Angst?
„Nati? Was hast du? Tut dir etwas weh? Warum weinst du denn? Was ist los?", fragte mich die kleine Abygail unsicher, worauf ich lachen musste. „Nein, meine Süsse. Ich bin glücklich. Deshalb weine ich", lächelte ich und hob sie vorsichtig hoch, worauf sie mir die Tränen wegstrich und meinte:„Ich weine nicht, wenn ich glücklich bin. Da lache ich. Wenn mir die Therapie weh tut, weine ich. Und wenn wieder jemand stirbt." Ich sah ihr in ihre süssen Glubschäuglein und stellte traurig fest, dass sie für ihre sieben Jahre leider schon viel zu viel durchmachen musste. Sie litt bereits seit Jahren an Sekundärknochenkrebs. Das bedeutete, dass sich der Krebs in ihrer Lunge gebildet hat und sich dann bis zu ihren Knochen ausbreiten konnte...

Alive - Wie er mir half zu lebenWhere stories live. Discover now