62. Kapitel

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Ich rannte durch die ganze Klinik zum Hinterausgang.
Plötzlich rannte ich gegen jemand, der sofort nach hinten fiel. Als ich die kleine Abygail erkannte, warf ich mich auf die Knie und half ihr wieder hoch.
„Nati, was ist denn los?", fragte sie geschockt und mit zitternder Stimme.
Es kam nicht oft vor, dass irgendetwas so Schlimmes passierte, dass man gleich so aufgelöst durch die Klinik rannte.
Wir totkranken Kinder sind eben abgehärtet.
„Es ist vorbei, Aby." Ich schüttelte den Kopf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
Auch in Abygails Augen bildeten sich Tränen und sie schlang ihre kleinen Ärmchen um mich. Augenblicklich musste ich an Rylie denken.
Wie würde sie reagieren, wenn sie erst erfuhr, was passiert war?

Wieder schüttelte ich den Kopf.
Nein, einen Rückzieher würde ich jetzt nicht mehr machen. Meine Familie hatte genug gelitten für ein ganzes Jahrtausend!
Vorsichtig drückte ich Aby an den Schultern zurück, worauf sie hysterisch begann zu schluchzen. „Nein! Nati, bitte tus nicht!"
Ich konnte der Kleinen nicht mehr in die Augen sehen.
Ich wandte mich von ihr ab und wollte weiter laufen.
„Wenn du nicht mehr da bist, was haben wir dann noch für Gründe zu bleiben? DU warst immer unser grösster Hoffnungsschimmer. DU hast es geschafft auf eine normale Schule zu gehen. DU warst immer die, die uns aufgebaut hat und uns gesagt hat, dass wir stark sein sollen!" Ich drehte mich zu ihr zurück, doch als ich hörte, wie die Jungs nach mir riefen, überkam mich die Panik. Ich musste hier weg.
„Diese Natalia gibt es nicht mehr", meinte ich kalt und rannte weiter zum Hinterausgang.
Die Rufe der Jungs hallten noch immer durch die Gänge und das Letzte, was ich hörte, bevor ich Emily's verliess, war Abygail. Sie schrie verzweifelt:„Sie geht zur Brücke!"

Ich musste eine Menge Schmerzen ignorieren, während ich lief, doch absolut nichts würde mich davon abhalten, meiner Familie ein sorgenloses Leben zu verschaffen.
Ohne mich umzuschauen, rannte ich über Strassen und brachte somit viele Auto mit quietschenden Reifen und vor allem hupend zum Stehen. Doch es war mir egal. Alles war mir egal.
Meinetwegen musste meine Familie viel zu oft leiden.
Dem sollte jetzt ein Ende gesetzt werden!
Ich würde es keinen weiteren Tag mehr ertragen, in ihre traurigen Augen zu sehen und dabei zu wissen, dass es meine Schuld war.
Dass alles meine Schuld war.
Warum hatten meine Eltern mich nicht zur Adoption freigegeben, als sie erfuhren, wie krank ich war?
Sie hätten so sich so eine Menge Sorgen und Leid ersparen können.

Ich rannte und rannte. Dabei stiess ich eine Menge Leute um, einige Radfahrer mussten ausweichen und eine Mutter musste noch in der letzten Sekunde ihr Kind aus dem Weg reissen.
Ich hörte wie sie alle über mich fluchten.
Sie sollten einfach alle die Klappe halten!
Wussten sie, wie es mir ging? Wussten sie, was ich durchmachen musste?
Nein!

Ich rannte weiter, meine Lunge stand kurz vor dem Explodieren. Doch es war mir egal.
Erst als ich vor der Brücke stand, blieb ich stehen. Hier liefen nur sehr wenige Leute durch. Die Brücke war nicht gerade das beliebteste Ziel für einen Spaziergang.
Zu viele Leute hatten hier ihrem Leben ein Ende gesetzt.
Ich konnte sie nie verstehen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb man sich das Leben nehmen wollte, wo es doch ein Geschenk Gottes war.
Jetzt verstand ich es.
Jeden Einzelnen, der von dieser Brücke sprang, verstand ich. Es gab ganz einfach eine Grenze und sobald diese überschritten wurde, war der ganze seelische wie auch körperliche Schmerz nicht mehr auszuhalten.

Sollten sie mir doch Vorwürfe machen, wie all den anderen vor mir auch!
Mir war es egal, denn ich würde zu dieser Zeit erlöst und vor allem gesund sein.
Wie es sich wohl anfühlte zu sterben?

Mit zitternden aber entschlossenen Schritten lief ich auf die Selbstmordbrücke, wie die Bewohner sie hier benannt hatten.
Niemals hätte ich gedacht, selbst einmal hier oben zu stehen.
Ich sah nach unten.
Mehrere Gleise erstreckten sich unterhalb des Bogens. Sie führten aufs Land hinaus.
Ich schaute zum Horizont, wo der Himmel die Erde küsste.
Dann drehte ich mich um. Die Gleise umgaben den Stadtrand wie ein schützender Zaun.
Wann wohl der nächste Zug kommen würde?

Alive - Wie er mir half zu lebenWhere stories live. Discover now