30 Der Halbbruder.

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❰  L I A M  ❱





Die blass blauen Augen von meinem Gegenüber studierten mich eingehend. Ich war alleine durch Haltung und Kleidung ein Spiegel ins Gegenteil. Er zeigte Eleganz, Autorität und Seriosität. Ich wirkte dagegen wie der Spieler, der Gelangweilte und extrem gleichgültig.

Langsam ließ ich das Handy sinken und beobachtete, wie David die überschlagenen Beine löste.

„Ist es nicht etwas zu früh für den ersten Drink, Harvard-Boy?", sprach ich und er grinste amüsiert. „Cambridge und Stanford, wenn schon", korrigierte er mich arrogant und ich antwortete prompt: „Protzer."

Doch er konterte schmunzelnd: „Loser."

Ich nippte an meinem Scotch und ließ mich nicht provozieren. Viel eher fühlte ich mich überraschend gut unterhalten.

David Grant griff in die Innenseite seiner Anzugsjacke und zog eine Zigarre hervor: „Darf ich eine anbieten?"

Er durfte und wenig später zog ich fest an dem Tabakstängel. „Schmecken gut", stellte ich fest und David erklärte: „Frisch aus Kuba."

Na denn.

Entspannt ließ ich den Blick schweifen, dann fragte ich: „Was willst du?"

„Wie kommst du darauf, dass ich auch nur irgendetwas wollen könnte?", stellte er die Gegenfrage. Das war einfach und ich meinte: „Das hier ist nicht dein Revier. Ist das verregnete London plötzlich zu langweilig?"

„Wir Briten mögen es nicht, wenn man über unser Wetter herzieht", David Grant nahm eine entspannter Haltung an und noch immer wusste ich nicht, was der Sinn seiner plötzlichen Anwesenheit war.

In all den Jahren war ich nie jemanden aus der Familie Grant begegnet und es hatte mich auch nie groß gestört. Außerdem war David all das, was ich nicht war. Ich hielt ihn für einen Langweiler, doch das war er nicht.

Alleine seine Gegenwart verriet mir, dass er nicht nur ein blasser und angepasster Vorbildstyp war. Seine Schlagfertigkeit und die Art, wie er sich präsentierte, machten ihn interessant. Etwas sagte mir, dass ich ihn mögen könnte, aber noch wies er zu viele Rätsel auf, um ihn komplett einschätzen zu können.

Tief zog David an der Zigarre, seine ausgeprägten Gesichtskonturen entspannten sich merklich und schließlich rückte er mit dem raus, was er wirklich wollte: „Du hast dir das Erbe von Grampa abgeholt, vor ein paar Wochen."

„Ja, und?", ich sah den Zusammenhang nicht. David legte den linken Fußknöchel auf sein rechtes Knie ab: „Darunter sind Schallplatten. Unter anderem von Bob Dylan."

Ich zuckte mit den Schultern: „Kann sein. So gut habe ich die Kisten noch nicht durchgeschaut." Das war eine glatte Lüge, denn an die Platte von Bob Dylan erinnerte ich mich gut.

„Ich will sie dir abkaufen", erklärte er direkt. „Für dich sind einige der Platten absolut wertlos."

Unwillkürlich grinste ich: „Für dich doch auch. Bestelle dir neue, oder biete irgendwo mit. Das Taschengeld solltest du als Hochstudierter haben."

„Nenne mich sentimental", beharrte er auf seinen Standpunkt. Leicht neigte er den Kopf: „Komm schon, Liam. Die Schallplatten sind wertlos für dich."

ROUGE [ Zweiter Akt ] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt